Diskurs 09.81
Sokrates aus Athen.
Der Durchbruch zur Erkenntnis der Vernunft
Inhalt
(1) Im Jahr -399:
Sensationsprozess gegen den Vernunftphilosophen Sokrates aus Athen
Sokrates verführt die Jugend und leugnet die Götter Athens. Mit dieser zugespitzten Anklage eröffnet Meletos den Sensationsprozess. Für manche erscheint dabei seine theatralische Pose lächerlich, seine gespielte Betroffenheit geradezu peinlich. Doch für Meletos ist dies der Auftritt seines Lebens. Vor ihm und um ihn herum Hunderte von Athenern und mittendrin er, der erhabene Dichter Meletos, Ankläger des berühmten Philosophen Sokrates.
Aus vielen Häusern waren die Bürger an diesem Morgen aufgebrochen, schon lange vor Sonnenaufgang. Noch im nächtlichen Dunkel drangen sie durch die schmalen Gassen der Agora zu. Nicht nur die 500 Richter, die das Urteil über Sokrates sprechen mussten, auch einfache Leute, Handwerker und Kaufleute, dazu Künstler, Priester, die Stadtoberen. So viele Bürger waren unterwegs, dass sie in den Straßen nicht vorankamen. Jeder wollte dabei sein bei diesem Sensationsprozess gegen
Sokrates (-469 bis -399).
Denn den kannten sie alle, den Alten. Seit 70 Jahren lebte er unter ihnen, hatte die Xantippe und die Myrto zur Frau, hatte drei Söhne – der Jüngste konnte noch kaum laufen. Von ein paar Feldzügen abgesehen hatte Sokrates die Stadt nie verlassen, er war ein echter Sohn seiner Stadt Athen. In ihr war er mit den jungen Leuten herumgezogen, hatte mit ihnen diskutiert, hatte ihnen immer wieder Fragen gestellt über die Götter, über die Welt, über die großen Rätsel des Lebens.
Jetzt drohte ihm die Todesstrafe. Recht so, meinten die einen. Sie hatten sich schon lange über diesen p h i l o s o p h o s, diesen Freund der Weisheit, geärgert. Ich weiß, dass ich nichts weiß, soll er immer wieder behauptet haben. Eine Frechheit! Für wie geistig beschränkt muss er dann erst die anderen halten? Wer so redet, setzt doch jungen Menschen nur Flausen in den Kopf. Hatten ihm deshalb nicht erst vor kurzem die Stadtoberen jeglichen Umgang mit Jugendlichen verboten? Aber hatte er sich daran gehalten? Jetzt musste mit diesem Schwätzer endlich kurzer Prozess gemacht werden.
Aufs äußerste verängstigt waren dagegen die anderen. Sokrates´ Freunde hatten sich angesichts der zusammenströmenden Menschenmassen verschüchtert in eine Ecke gedrängt: Der greise Kriton, der treue Platon, Lysiander, und ein paar andere mehr. Sie kannten die missgünstige Stimmung der Athener nur zu gut. Aber wie viele waren es wirklich, die für Sokrates die Todesstrafe wollten? Wie dachten die Richter? Gab es bei denen wirklich eine Mehrheit gegen Sokrates?
Wir können uns diesen Aufsehen erregenden Prozess im Abendland, den Prozess gegen den großen Philosophen Sokrates, mit fantasievollen Bildern vorstellen. Die Anklage selbst aber bleibt dabei in ihrem Kernpunkt immer unmissverständlich dieselbe: Sokrates verführt die Jugend und leugnet die Götter Athens. Im griechischen Urtext steht:
Sokrates
tous theous ou nomizonta – erkennt die Götter nicht an
tous athenai nomizonta – die die Athener anerkennen.
Der zentrale Begriff in dieser Anklage ist das altgriechische Verb n o m i z o m a i. Nomizomai bezeichnet volle Zustimmung: Ich folge dem Herrscher; ich vertraue dem Freund; ich glaube an das Gute. Sokrates verfährt so nicht mit den Göttern. Sokrates folgt den Göttern nicht; Sokrates vertraut den Göttern nicht; Sokrates glaubt nicht an die Götter. So die Anklage.
Die Anklage konkretisierte den Vorwurf auf die Leugnung jener Götter, die in Athen Anerkennung und Geltung hatten. Das macht generell deutlich, dass die Götter nicht als Privatsache gewertet wurden, sondern als Symbole gesellschaftlicher Verbundenheit, ja staatlicher Ordnung und Stabilität. Nomizomai fordert hier deshalb ganz konkret, die Götter Athens als Sitte und verbindlichen Brauch, als Ordnung und Machtgefüge anzuerkennen.
Der Prozess gegen Sokrates mit der Anklage, er leugne die Götter Athens, hatte also gesellschaftspolitische, ja, höchst politische Bedeutung. Er stand in der Nachfolge der anderen asebeia-Prozesse, Gottlosen-Prozesse der perikleischen Demokratieepoche, also der Prozesse gegen die Philosophin Aspasia, gegen den Naturphilosophen Anaxagoras, gegen den Sophisten Protagoras. Nur dass der Sokrates-Prozess unter äußerst dramatischen politischen Verhältnissen stattfand, nämlich fünf Jahre nach dem Peloponnesischen Krieg mit der verheerenden Niederlage Athens gegen Sparta. Athen befand sich da in einem Ausnahmezustand, in einer völlig aufgerissenen gesellschaftlichen Krise.
Wir wissen um die Anklage und um den Sensationsprozess im Jahr -399 in der Hauptsache durch Platon, dem intimsten Schüler des Sokrates. Platon beschreibt nämlich in seiner Dialogschrift EUTHYPHRON, wie Sokrates morgens zu seinem eigenen Gerichtsprozess geht und dabei mit dem Priester Euthyphron über die Bedeutung der Götter diskutiert; in der APOLOGIE gibt Platon die drei Reden wieder, die Sokrates während des Prozesses zu seiner Verteidigung gehalten hat; im KRITON berichtet er, wie der greise Freund den Sokrates zur Flucht überreden will; schließlich schildert er im PHAIDON den Todestag des Sokrates bis zu dessen letztem Atemzug.
Hat der Schüler Platon die dramatischen Prozessvorgänge um seinen Lehrer Sokrates sachgerecht dargestellt? Zweifel sind angebracht, denn sicher war Platon daran interessiert, die Leugnung der Götter durch seinen Lehrer abzuschwächen, zu verharmlosen,. Platon selber war ja von Grund auf fromm. Die historische Forschung unserer Tage ist deshalb durchweg der Meinung, dass wir immer wieder damit zu rechnen haben, dass Platon eigene Gedanken in Sokrates hineinlegt – und zwar zunehmend in seinen späteren Dialogschriften, in denen er seine eigene Ideenlehre entwickelt. Platons frühe Darstellung der Prozessabläufe um Sokrates aber sehen die Historiker dagegen doch wohl geprägt von der Absicht, möglichst objektiv zu berichten.
Dass dabei insbesondere der Kernpunkt der Anklage gegen Sokrates sachgerecht wiedergegeben wird, zeigt ein Beleg bei dem Chronisten Plutarch. In dessen LEBENSBESCHREIBUNGEN ist der Fall der Gottlosigkeit eines Athener Bürgers strafrechtlich fixiert. Hiernach hat die athenische Vollversammlung anno -432 den Beschluss gefasst, diejenigen zu verfolgen, die nicht an das Göttliche glauben und Lehren von (göttlichen) Erscheinungen im Himmelsraum bestreiten. Ihnen wird die Todesstrafe angedroht. Auf diesen Paragraphen hat Meletos seine Anklage gegen Sokrates nahezu wörtlich aufgebaut.
(2) Die Anklage
Die Anklage, er leugne die Götter und strebe nach fragwürdigen Neuerungen, war für den betagten Sokrates eigentlich ein alter Hut. Im Jahre -423, also schon 25 Jahre vor Meletos, hatte nämlich der wegen seiner spitzen Zunge gefürchtete Aristophanes seine Komödie DIE WOLKEN geschrieben und in Athen uraufgeführt. Auch damals volles Haus. Ganz Athen war wieder einmal auf den Beinen. Sokrates soll bei der Premiere selbst unter den Zuschauern gesessen und sich die gegen ihn gerichteten bissigen, ja, höhnischen Texte angehört haben. Mittendrin soll er aufgestanden sein, um zu zeigen, dass er es sei, um den da vorne auf der Bühne ein solches Theater gemacht würde.
Aristophanes macht in seiner Satire den Sokrates zur Zielscheibe zweier elementarer Vorwürfe:
– erstens: Sokrates setzt kompromisslos den Glauben außer Kraft, der oberste Gott Zeus sei der Verursacher aller Dinge.
– zweitens: Überall führt er stattdessen neumodische Erklärungen ein, um mit seinem Verstand zu glänzen.
Als Beispiel dafür der spitze Theater-Dialog zwischen dem Priester Strepsiades und dem Philosophen Sokrates:
Strepsiades:
Aber Zeus?
Wie steht´s denn mit dem bei euch?
Ist er nicht mehr der Gott des Olympos?
Sokrates:
Was meinst du mit Zeus? Was soll mir der Wahn?
Es gibt keinen Zeus!
Strepsiades:
Hör ich richtig?
Wer ist´s, der uns den Regen bringt?
Das musst du mir erklären.
Sokrates:
Natürlich sind es sie da (die Wolken).
Und dass es so ist,
das werd´ ich dir bündig beweisen.
Wohlan: Wo hast du denn jemals gesehen,
dass es ohne Wolken regnet?
Strepsiades:
Wer aber macht dann den Donner, sag an!
Denn vor dem kommt mir immer das Zittern.
Sokrates:
Auch den machen die da (die Wolken): Sie wälzen sich um,
dann donnert´s.
Strepsiades:
Doch wie, du Verwegener?
Sokrates:
Wenn sie völlig mit Mengen von Wasser gefüllt
unter Zwang sich weiterbewegen,
dann hängen nach abwärts sie, regenvoll,
und sie platzen, und das mit Gepolter.
Strepsiades:
Wer ist´s aber, der zu wandern mit Zwang
sie antreibt? Ist das nicht doch Zeus?
Sokrates:
Durchaus nicht. Der himmlische Wirbel ist´s.
Strepsiades:
Der Wirbel? Das ist mir was Neues,
dass es Zeus nicht gibt, und an seiner Stelle
sei der Wirbel der König! …
Das saß. Für die götterfürchtigen Athener klang dieser bissige Text schon damals wie eine Anklage, ja, mehr noch wie eine vorweg genommene Verurteilung. Seit langem, so wird Sokrates viel später in seiner Verteidigungsrede während des Prozesses sagen, versuchen die Leute, mich mit dem Vorwurf der Gottlosigkeit zu fassen, aber sie selbst sind nicht zu fassen, es sei denn ein gewisser Komödiendichter. Das heißt: Gerüchte und Vorwürfe gegen Sokrates sind Jahrzehnte lang verbreitet, Stimmungen geschürt worden. Eine lange Kette von verhetzenden Nachreden gipfelt schließlich in der offiziellen Anklage des Meletos.
Im Grunde hatte es Sokrates dennoch leicht, sich zu verteidigen. Alle hatten die Anklage des Meletos gehört, der Fakt lag auf dem Tisch: Der da leugnet die Götter Athens. Alle warteten jetzt gespannt darauf, was der so Angeklagte zu seiner Verteidigung zu sagen hätte. Also: Professor = Bekenner vor! Jetzt brauchst du doch nur ein eindeutiges Bekenntnis zu den Göttern Athens abzulegen, etwa zum Göttervater Zeus als dem Verursacher aller Dinge; oder zur Göttin Athena als der Schutzherrin der Stadt Athen; oder zu all den anderen Göttern, die so zahlreich den Olymp bevölkern. Also los! Welch eine imposante Hörerkulisse für dein Götterbekenntnis, welch eine Sternstunde für jemanden, der endlich mit einer eindeutigen Klarstellung alle Vorwürfe mit einem Schlag vom Tisch wischen kann.
Und Sokrates tritt vor und redet lange und eindrucksvoll. Zunächst berichtet er über seine Suche nach einem wirklich weisen Menschen. Die Staatsmänner etwa? Oder die Dichter? Oder vielleicht die Handwerker? Bei niemandem hat er, Sokrates, Weisheit gefunden. Sie alle bilden sich zwar viel ein, aber weise ist doch keiner von ihnen. Na gut. Das mag den Zuhörern verdeutlichen, warum das Orakel von Delphi Sokrates zum weisesten aller Menschen erklärt hat, weil er nämlich als einziger weiß, dass er nichts weiß. Aber ein Bekenntnis zu den Göttern ist das natürlich noch nicht.
Sokrates redet weiter über seine persönlichen Staatsverdienste, etwa über seine Teilnahme an den Schlachten, die das athenische Heer geführt hat. Gerühmt haben sie doch alle seinen Mut, seine Tapferkeit. Hat er nicht sogar den schwer verwundeten Feldherrn Alkibiades durch das Schlachtgetümmel getragen, und hat er ihm nicht so, ungeachtet eigener Gefahr, das Leben gerettet? Das war natürlich toll. Aber auch das ist noch immer kein Bekenntnis zu den Göttern.
Sokrates reizt schließlich seinen Ankläger Meletos vor allen Hörern zu einem Dialog heraus über die Logik seiner Anklage. Kann denn ein vernünftiger Mensch eine Anklage ernst nehmen, die in sich ganz einfach unlogisch ist? Denn wie soll er, Sokrates, eigentlich an Dämonen, also an die Söhne der Götter glauben, wenn er doch angeblich die Götter leugnet? Kann man an Fohlen glauben, wenn man die Existenz von Pferden bestreitet? Ja, das ist typisch Sokrates: Im kurzen Dialog führt er seinen Gegner ad absurdum. Aber auch das ist kein Bekenntnis zu den Göttern.
Also gar kein Bekenntnis zu den Göttern? Ist das wirklich alles? Als Sokrates seine Verteidigungsrede beendet hat, sind Freund und Feind überrascht, gar entsetzt. Hat er noch immer nicht den Ernst der Stunde begriffen? Wenn das so stehen bleibt, dann ist seine Lage nahezu aussichtslos, das Urteil Todesstrafe zwingend sicher.
In der Pause vor der Urteilsverkündung ist genügend Zeit für die Frage: Was eigentlich machte so viele Athener so radikal gegen Sokrates? Warum sind sie geradezu verbissen darauf aus, diesen alten Mann kurz vor seinem natürlichen Tod umzubringen?
Eines ist klar: Der Sokrates-Prozess ist ein Musterprozess, in dem die unterschiedlichen Interessen zwischen dem traditionell konservativ-religiös denkenden Volk einerseits und den neuen freiheitlich denkenden Philosophen andererseits aufeinander prallen. Das mit Ressentiment und Verunsicherungen aufgestaute Volksbewusstsein wehrt sich gegen das Neue. Verteidigung des Alten ist für das Volk angesagte Bürgerpflicht.
Denn in der Tat: Das Denken des Sokrates in sich als Philosophie ist höchst bedrohlich. Es greift bis in unsere Zeit hinein das Ich-Bewusstsein des Menschen an. Es reißt vom Alten weg nach vorn. Die Brisanz dieses Denkens gilt es jetzt vom Grundsatz her zu erfassen.
(3) Das Daimonion
In den Verteidigungsreden des Sokrates ist ein Schlüsselbegriff das d a i m o n i o n. Wir hören Sokrates dazu
in seiner ersten Rede so:
… dass mir etwas Göttliches und Dämonisches widerfahre, was auch Meletos in seiner Anklage spottend erwähnt hat. Mir ist das von meiner Kindheit an geschehen, eine Stimme nämlich, welche jedes Mal, wenn sie sich hören lässt, mir von etwas abrät, was ich tun soll, zugeredet aber hat sie mir nie …
und in der dritten Rede so:
… Mein gewohntes Vorzeichen (das Daimonion) nämlich war in der vorigen Zeit wohl gar sehr häufig, und oft widerstand es mir in völligen Kleinigkeiten, wenn ich im Begriff war, nicht auf die rechte Weise zu tun …Wiewohl es bei anderen Reden mich oft mitten im Reden befällt, jetzt aber hat es mir nirgends bei dieser Verhandlung, wenn ich etwas tat oder sprach, im innersten widerstanden …
Liegt hier, halb verdeckt, das Bekenntnis des Sokrates zu den Göttern? Christliche Interpreten haben in diesem Daimon eine göttliche Stimme vermutet. Ja, gegen die alte Götterwelt sehen sie hier eine neue religiöse Qualität aufbrechen, gleichsam eine neuartige monotheistische Gotteserfahrung. Sie meinen, Sokrates leugne deshalb die griechische Götterwelt, weil ihm im Innersten eine göttliche Stimme, nein, d i e göttliche Stimme widerfahren wäre. So machen sie Sokrates in seiner Ablehnung der heidnischen Götter ganz unversehens zum vorchristlichen Bekenner des biblischen und damit des christlichen Gottes.
Gerade auch heutige Sokrates-Interpreten sind ergriffen von der tiefen Frömmigkeit, die sich ihnen in dem daimonion des Sokrates ausdrückt und leiten daraus den Urgrund seiner ganzen Philosophie ab. Das aber ist geradezu maniriert-lächerlich in der Konsequenz, dass ein großer logischer Denker so die Letztbegründung seines Denkens verteidigt. Wie heruntergekommen albern muss das Göttlich-Erhabene eigentlich verstanden werden, um sich letztgültig in einem derart absonderlich psychischen Effekt ausgedrückt zu finden? Sokrates fragt in seiner Verteidigungsrede mit seiner Antwort an Meletos ja selber: Glauben sie ernsthaft, meine Herren, dass ich an Dämonen (Fohlen) glauben muss, wenn ich an Götter (Pferde) nicht glauben kann?
Ziehen wir alle Texte heran, in denen bei Sokrates vom daimonion die Rede ist, dann erhält dieses Phänomen eine völlig untergeordnete Bedeutung, weil es ausschließlich in ethisch unrelevanten Situationen vorkommt. Es ist nie eine göttliche Weisungskraft, die eine Wahrheit mitteilt, nirgends eine jenseitige Stimme, die den Willen Gottes offenbart. Es ist eher eine Art persönliche Stoppregel, die kluge Vorsicht walten lässt, gleichsam die manifestierte Skepsis gegen sich selbst. Sokrates, der alles in Frage stellt, stellt auch ständig sich selbst in Frage, speziell seine Antworten, die er gibt und seine daraus folgenden Taten.
Eben mit seinem radikal-kritischen Denkanspruch gegen sich selbst hat Sokrates auch seine Mitmenschen damals aufs Äußerste gereizt- ganz absichtlich und gezielt. Unergründlich bin ich, sagt er, und bringe es dahin, dass die Menschen nicht mehr weiterwissen. Da genau liegt die Absicht des Sokrates. Er will die Menschen in ihrem verfestigten Wissen entsichern, erschüttern, aufbrechen. Er will ihre schnellen Antworten, die sie mit zu großer Selbstsicherheit geben, als fragwürdig erweisen. Sokrates kritisches Fragen muss derart rücksichtslos gewesen sein, dass sich die Menschen nicht selten in ihrem Selbstverständnis so tief angegriffen und verletzt fühlten, dass sie ihn aus Wut geschlagen haben.
Mit seinem Verstand kritisiert er vor allem auch die Vorstellungen von den Göttern, so wie diese aus der alten griechischen Mythologie heraus in seinem gesellschaftlichen Umfeld, also im Volk und im Staat wie selbstverständlich Gültigkeit hatten. Dazu zwei Beispiele:
– Der Dialog EUTHYPHRON berichtet, wie Sokrates morgens auf dem Weg zu seinem Prozess auf den Priester Euthyphron trifft und mit diesem noch einmal über die Bedeutung der Götter spricht. Der Priester ist voller naiven Glaubens an die Götter, und je mehr er sich in einen religiösen Enthusiasmus hineinsteigert, dass nämlich alles von den Göttern herkäme, desto distanzierter kontert Sokrates mit der Frage: … und das alles sollen wir mit unserem Verstand glauben?
– Im Dialog PHAIDON agiert Sokrates mit der gleichen entlarvenden Skepsis gegen die Göttermythen und den allgemeinen Götterglauben, wenn er feststellt: Wenn ich das eben nicht glaube wie die „Klugen“, so wäre ich eben nicht ratlos … Daher lasse ich das alles gut sein und abwehrend, was darüber geglaubt wird, … denke ich nicht über diese Dinge nach.
Sokrates grundsätzliche in Frage Stellung der Götter ist begründet in seinem kritischen Denkprozess, d.h. in seinem immer erneuten Fragen: Was ist das Letztgültige? Worauf kann sich der Mensch mit seinem kritischen Geist im Allerletzten verlassen? Antwort: Nicht auf die Götter oder gar auf einen Gott!
Diese Feststellung kann bei Sokrates überhaupt nicht überraschen, denn bei allen vorsokratischen Denkern, den großen ionischen Naturphilosophen, sind die Götter nie die prima causa der Welt. Die Götter, selbst der höchste Gott Zeus, sind immer nur aus dem Urgrund heraus geschaffen, also selbst nur Geschöpfe. Kein naturphilosophischer Denker vor Sokrates ist ernsthaft auf die Idee gekommen, die Götter oder einen Gott zum Urgrund selbst oder zum Schöpfer des Seins zu machen – also auch Sokrates nicht. Nur: Sokrates hat diese kritische Position erkenntnistheoretisch bewusst gemacht und mit unerbittlicher Konsequenz in einen säkularen Denkansatz gebracht.
Sein logischer Denkdruck ist nur die eine Seite, warum Mitbürger und Staat von Athen mit Sokrates in offenen Konflikt geraten sind. Die andere ist die politisch Lage Athen um -400.
(4) Sokrates und die damals aktuelle politische Krisensituation der Polis Athen
Zum einen: Nach über 25 Jahren zermürbender Kämpfe war im Jahr -404 der Krieg zwischen Athen und Sparta als dem Anführer des Peloponnesischen Bundes mit einer Katastrophe für Athen zu Ende gegangen, nämlich mit der totalen Kapitulation der einst so stolzen Machtmetropole an der Spitze des Attischen Bundes. Athen musste seine mächtige Flotte bis auf 12 kleine Handelsschiffe ausliefern, seine Stadtmauern wurden geschleift, sein attisches Einflussterritorium radikal beschränkt. Athen lag am Boden, dem eindeutigen Sieger Sparta zu Füßen.
Zum anderen: Unter dem Einfluss Spartas kam es in Athen im Kapitulationsjahr -404 zum politischen Umsturz der Demokratie. An die Macht setzten sich die dreißig Tyrannen unter dem Schutz der spartanischen Besatzung. Ihre Herrschaft mit rigorosen Maßnahmen verbreitete in Athen Angst und Schrecken. Viele Demokraten flüchteten aus Athen vor dem Zugriff dieser Usurpatoren. Nur mit größter Mühe konnten die Tyrannen schließlich von den Athenern vertrieben und die Demokratie wieder hergestellt werden.
Der Prozess gegen Sokrates fand nur vier Jahre nach diesen für Athen verheerenden Ereignissen der Jahre -404/403 statt. Der außenpolitische Zusammenbruch einerseits und die desaströsen innenpolitischen Zustände andererseits hatten Athen aufs Äußerste verunsichert.
Durchweg lassen die Betrachtungen zum Prozess der Athener gegen Sokrates diese politischen Zusammenhänge fast vollständig außer Betracht, so als schwebe Philosophie unberührt über dem historischen Geschehen. Das eben nicht! Philosophie ist in ihrer Themenaktualität nahezu immer ein entscheidendes Stück Zeitgeschichte. Dies gerade auch bei Sokrates, der als ein höchst politischer Mensch mit seinen philosophischen Gedanken aktiv am Leben der Polis Athen teilnahm.
Deshalb erklären sich die Gründe für die Härte, mit der der Staat von Athen und die Athener Bürger den Konflikt mit Sokrates und seiner Philosophie ausgefochten haben, ja, ausfechten mussten, ganz konkret aus der Brisanz der aktuellen politischen Lage des Stadtstaates, denn:
– Aus der Sicht der Staatsführung von Athen
musste die neue Regierung versuchen, mit restaurativen Maßnahmen die angeschlagene Demokratie schnell zu festigen. Zum Beispiel ließ sie demonstrativ die alten Gesetze Solons gleichsam als Verfassung sichernde Grundsätze neu aufzeichnen. Um Ruhe und Stabilität zu gewährleisten, setzte der Staat ganz gezielt auf eine Staatsraison, in der das Volk durch Aufrechterhaltung der öffentlichen Frömmigkeit fest am Zügel gehalten wurde. Gerade weil die Anerkennung der Götter Athens privat als diffus erscheinen mochte, war die Teilnahme der Athener an öffentlichen Kulten und Festritualen als Bürgerpflicht umso wichtiger. Die Bindung des Volkes an die Staatsreligion sollte die staatbürgerliche Integration der Athener sichern.
Die Anklage, Sokrates leugne die Götter Athens, bedeutete also primär, dass Sokrates die Durchsetzung der inneren Ordnung aufs Höchste gefährdete, weil er die Staatsreligion zur Aufrechterhaltung der Staatsraison in Frage stellte. Er geriet damit sogar in den grundsätzlichen Verdacht des Landesverrates. Deshalb war der Religionsprozess gegen ihn durchaus höchste Staatsangelegenheit, den alle interessierte.
– Aus der Sicht des Volkes von Athen
war Sokrates´ Haltung zu den Göttern schlicht Gotteslästerung. Die Athener waren schon immer stolz darauf gewesen, für die frommste Stadt Griechenlands zu gelten. Dazu wird man allerdings in den unterschiedlichen Sozialschichten differenzieren müssen:
Je niedriger die Schichtung, desto frommer Menschen.
Beim Volk mit seiner besonders naiven Volksfrömmigkeit waren Götter Grund und Legitimation für alles. Deshalb galt dem Volk der leichtfertige Vorwand, über Neues selbst nicht nachdenken zu müssen, weil man ja an den alten Göttermythen gutgläubig festhielt. So liefen gerade die niederen Schichten begeistert zu den Kultevents des Staates.
Je intellektueller die Kreise, desto indifferenter, gar kultfeindlicher die Menschen.
Anno -415 in Athen hatten Intellektuelle, so genannte Gotteslästerer = griechisch: k a k o d a i m o n i s t a i aus reiner Frivolität Götterbüsten umgestürzt und verstümmelt. Andere hatten Mysterienkultstätten entweiht, um wie das einfache Volk beklagte unsere Götter und Sitten zu verhöhnen. Prominente Persönlichkeiten waren dabei im Spiel, Freunde auch von Sokrates.
Dieser Hermenfrevel löste in der breiten Öffentlichkeit einen Aufschrei der Empörung aus. Eine Flut von Prozessen wurde geführt. Todesurteile gefällt. Noch bis in die Tage des Sokratesprozesses wirkte dieser Götterfrevel in der einfachen Bevölkerung nach.
Sokrates galt generell als Anführer der herumschweifenden Intellektuellen. Der Komödiendichter Aristophanes hatte das immer wieder unters Volk gebracht. So war Sokrates den breiten Massen schon immer verdächtig, weil geistig hoch überlegen. Für sie stürzte er die Götter nicht aus Laune von steinernen Sockeln. Sokrates wollte die Götter aus ihren Köpfen auslöschen. Deshalb fühlten sie sich von ihm in ihrem Selbstverständnis ganz persönlich herausgefordert, erschüttert in ihrem alten naiven Mythenglauben.
(5) Ein konkretes Beispiel im sokratisches Denkprozess
Um Sokrates Wirkung auf die Volksfrömmigkeit und damit die Verunsicherung des Volksbewusstseins exemplarisch vorzuführen, erfinden wir ein kleines sokratisches Denkspiel aus dem Alltag:
Der kleine Junge fragt seine Großmutter: Oma, warum ist das Meer salzig?
Die Großmutter antwortet: Das hat der liebe Gott gemacht
Der Junge: Oma, warum ist das Meer so doll salzig?
Die Großmutter: Weil der liebe Gott das so doll gewollt hat.
Dieses kleine Beispiel deckt zumindest drei Symptome auf:
– Erstens: Die Großmutter hat nicht den Mut zu sagen: Ich weiß es nicht. Würde sie es wissen, könnte sie dem Jungen seine Frage mit ein paar einfachen Hinweisen sachgerecht beantworten.
– Zweitens: Die Großmutter verschleiert ihr Nichtwissen durch eine Behauptung voller frommer Gläubigkeit. Sie weicht damit in die ganz andere Welt ihrer subjektiven Überzeugungen aus. In Ermangelung realen Wissens gaukelt sie dem Jungen mit ihrer Erklärung auf Gott hin ein Scheinwissen vor.
– Drittens: Die Großmutter verstellt dem Jungen mit ihrer Erklärung auf Gott hin das Erkennen der natürlichen Ursachen und damit der realen Vorgänge. Sie blockt seine Wissbegierde mit leerer Allgemeingültigkeit ab, statt seinen Erkenntnisdrang mit eigener offener Fragebereitschaft anzufeuern.
Im Gespräch mit Sokrates würde die alte Dame schnell ihrer trügerischen, ja, ihrer selbstbetrügerischen Haltung überführt werden. Sokrates würde immer wieder nachfragen, immer erneut in Frage stellen. Dabei ließe sich ein typisch sokratischer Dialog in drei Denkschritten mit einer Folge logischer Konsequenzen aufbauen:
Zum ersten fragen wir mit Sokrates:
Warum sagst du nicht ganz einfach: Ich weiß es nicht
Grundsätzlich zielt Sokrates auf die elementare Feststellung: oida, ouk oida – ich weiß, dass ich nichts weiß. Diese berühmte Einsicht ist für Sokrates Ausgangspunkt für jeden Erkenntnisprozess überhaupt. Sie bedeutet: Von seinem subjektiven Denken her weiß der Mensch von den realen Sachverhalten der Wirklichkeit wenig, eigentlich nichts. Der Kopf des Menschen ist nicht so eingerichtet, dass sich ihm die Wirklichkeit in ihrer objektiven Faktizität unmittelbar erschließt. Der Ablauf der Natur ist dem Menschen keineswegs automatisch einsichtig. Warum also ist das Meer so salzig? Ich weiß es nicht. Zunächst wenigstens nicht. Das ist für Sokrates eine sachgerechte, ehrliche Antwort.
Doch so ehrlich ist der Mensch mit sich selbst eben nicht. Vielmehr fühlt er sich in seinem Selbstverständnis verunsichert, wenn er auf offene Fragen keine Antwort weiß, so als sei das für ihn eine persönliche Blamage, eine Minderung seiner Autorität. Deshalb tut er lieber so, als wüsste er es und setzt deshalb aus sich selbst heraus Antworten, um sich zu behaupten. Überall trifft Sokrates bei seinen Gesprächen Menschen, die so vorgeben, über alles genau und letztgültig Bescheid zu wissen. Fragt er aber nach, dann wissen sie in Wirklichkeit herzlich wenig, meistens nichts, was wirklich Gültigkeit hätte.
Solche Menschen, die meinen, ihre persönliche Autorität gar würde zusammenbrechen, wenn sie keine endgültigen Antworten wüssten, solche Menschen sind zuvorderst die religiös-konservativen Menschen. Sie begründen ihre Wissensbehauptungen nicht etwa durch genaue Sachkenntnisse, sondern dadurch, dass sie hinter ihre persönlichen Behauptungen die größtmögliche Autorität setzen – die Götter, Gott. Mit Gott haben sie eben auf alle offenen Fragen immer sofort eine Erklärung mit absoluter Letztgültigkeit parat und fühlen sich so unantastbar, denn wer würde wagen, ihre mit Gott gegebenen Antworten zu bestreiten?
Zum zweiten fragen wir mit Sokrates:
Merkst du nicht, dass du dir mit der Antwort „Gott“ nur ein Scheinwissen vorgaukelst?
Im Angriff auf derartig letztgültige Wissensbehauptungen kann Sokrates penetrant werden, indem er unnachgiebig nachfragt: Sollen wir das, was du da sagst, mit unserem Verstand wirklich annehmen? Hast du dabei auch folgendes Argument bedacht? Nein. hast du nicht? Warum sagst du dann, du weißt es? Das andere Argument hast du auch nicht bedacht? Davon hast du nicht einmal gehört? Musst du dann nicht doch noch einmal ganz neu nachdenken, mein Freund, bevor du behauptest, du wüsstest es sicher? Der permanente Zweifel des Sokrates. Dieser Zweifel, oft in Form von bissiger Ironie, zermürbt gezielt alles behauptete Wissen, alle angeblich letztgültige Erkenntnis.
Mit Sokrates entlarven sich deshalb gerade auch alle Wissensbegründungen mit Gott als äußerst fragwürdig. Denn je schneller man sich auf Gott beruft, desto weniger weiß man von den wirklichen Dingen selbst. Andersherum: Je weniger jemand von der Realität Ahnung hat, desto schneller argumentiert er mit Gott. Mit Gott wird seitens der Erklärer also keineswegs stichhaltige Erkenntnis der Realität gegeben, sondern werden nur Kriterien erkennbar für das Unwissen der Erklärer. Erklärungen mit Gott signalisieren das Nichtwissen der Erklärer.
So weiß der religiöse Mensch mit Gott alles, nur nicht, dass er damit eigentlich nichts weiß. Statt sich aber zu seinem Nichtwissen zu bekennen, hängt er sich an sein Scheinwissen, an eine Welt der religiösen Fantasie. Sie besteht aus spekulativen Aussagen in subjektiver Beliebigkeit. Hier kann der Mensch hineinprojizieren, was er wünscht, was er hofft. Hier kann er die Welt selbstbezogen interpretieren, ohne objektive Kontrolle. Je mehr aber der Mensch seine beliebigen Vorstellungen als letztgültiges Wissen behauptet, desto schwerer kann er sich davon trennen. Sie aufgeben zu müssen, würde für ihn ein Stück Selbstaufgabe bedeuten. Deshalb klammert er sich an ihnen fest, selbst wenn sie als äußerst fragwürdig erscheinen. In summa: Die religiöse Scheinwelt ist Ausdruck nicht von wirklichem Sein, sondern von zweifelhaftem Bewusst-Sein.
Zum dritten fragen wir mit Sokrates:
Interessiert dich nicht auch, wie es wirklich ist?
Nur die Abschaffung der Götter, die Aufhebung der göttlichen Welt löst den Konflikt zwischen dem Scheinwissen einerseits und andererseits der Frage des Nichtwissenden: Was eigentlich ist wirklich? Deshalb müssen für Sokrates alle Erklärungen mit den Göttern über-wunden werden. Eben in diesem Sinne wird Sokrates Atheist. Er negiert die Götter als Begründer, als Verursacher, als prima causa der vorfindlichen Realität. Er setzt deshalb mit seinen kritischen Fragen all die Göttergeschichten außer Kraft, er hebt die Mythen auf, die spekulative Welt der Religion.
So wird er frei für das Neue. Indem er die Wirklichkeitsvorstellungen radikal entmythologisiert, schafft er die Voraussetzungen für ein völlig neues, für ein säkulares Wirklichkeitsverständnis. Sein weltlicher Verstand bekämpft das zweifelhafte mythische Bewusstsein, um ein neues säkulares Bewusstsein zu ermöglichen. Diese säkulare Rationalität aber ist also nicht nur Aufhebung des Alten, sondern zugleich das Schaffen von Neuem. Gerade die Selbsterkenntnis Oida ouk oida – ich weiß, dass ich nichts weiß wird jetzt zum Ausgangspunkt eines ganz neuartigen Fragens. Ziel ist dabei keineswegs das Eingeständnis eines prinzipiellen Nichtwissens, etwa im Sinne eines radikalen Skeptizismus: Der Mensch kann überhaupt gar nichts wissen. So nicht! Ziel ist vielmehr das möglichst genaue Wissen, das Erkennen des Diesseitig-Realen, des Säkular-Vorfindlichen.
Dem aufmerksamen Leser der sokratischen Dialoge in den frühen Schriften Platons fällt allerdings schnell auf, dass Sokrates lieber fragt als antwortet. Der philosophische Fachmann sagt, die sokratischen Dialoge seien auf Aporie (= Unmöglichkeit, in einer bestimmten Situation eine richtige Antwort zu finden) angelegt, ihre innere Fragestruktur vielmehr so entwickelt, dass sie nicht zwingend auf eine letzte Antwort zuläuft, sondern zum Schluss ganz bewusst offen bleibt.
Das bedeutet keineswegs, dass Sokrates nicht auf letzte Erkenntnisse hin gefragt hätte. Es bedeutet vielmehr, dass ihm selbst klar war, dass der Erkenntnisweg zur Letztgültigkeit viel weiter ist, als der Mensch das wahrhaben möchte. Deshalb gibt Sokrates kaum Antworten. Er kann sie nicht geben, weil auch er selbst sie noch nicht weiß. Das ist das Großartige an Sokrates gegenüber vielen anderen Philosophen nach ihm: An einer vorschnellen Antwort ist ihm nie gelegen. Lieber sagt er: Lass uns man noch mal ´ne Runde dreh´n und noch ´mal über alles genau nachdenken. Wir müssen doch noch so viele Fragen klären, bevor wir etwas Genaueres sagen können. Vor allem muss erst einmal all das Alte aus dem Kopf raus. Solange der Kopf von dem Alten besetzt ist, findet das Neue keinen Platz.
(6) Der Logos
Womit nun sichert diese kritische Rationalität ihre säkulare Erkenntnis? Worin gründet die Letztgültigkeit ihres Wissens? Darauf antwortet Sokrates: Nicht nur in diesem Augenblick (angesichts seines Todes), sondern mein ganzes Leben lang halte ich es so, dass ich nichts anderem gehorche als dem l o g o s, der sich mir in der Untersuchung als der beste erweist. In seiner Bahn brechenden Studie über Sokrates hat Julius Stenzel gezeigt, dass dessen gesamtes Denken letztbegründet ist e n l o g o – in dem l o g o s, der sich ihm in der Untersuchung als der beste erweist.
Der griechische Logos hat eine tief gestaffelte Bedeutung:
– Zunächst bedeutet logos = Wort. Logos bezeichnet somit den Begriff, durch den eine allgemein verbindliche Bedeutung für eine Sache zum Ausdruck kommt.
– Sodann bedeutet logos = Verstand. Logos bezeichnet somit alles, was mit Vernunft begründendem Denken zu tun hat, und deshalb einen vernünftigen Sinn ergibt.
– Schließlich bedeutet logos = Logik. Logos bezeichnet dabei ein in sich geschlossenes Gedankengebäude, eine umfassende Theorie, in der vorfindliche Einzelheiten in letztgültige Zusammenhänge gebracht werden, die von jedem nachgeprüft werden können.
En arche en ho logos – Am Anfang war der Logos.
kai ho logos en pros ton theon – und der Logos war bei Gott.
kai ho theos en ho logos – und Gott war der Logos.
So schreibt der Evangelist Johannes die ersten Zeilen am Anfang seines Evangeliums. Etwas im Jahr 100 nach Christus. Er setzt damit an den Anfang seiner christlichen Botschaft einen Begriff, der nicht nur bei Sokrates, sondern in der gesamten klassischen Philosophie der Antike eine zentrale Rolle gespielt hat: Ho – logos – der Logos. Dieser Anfang ist einer der spannendsten Augenblicke in der abendländischen Geistesgeschichtet, denn Johannes versucht mit diesem dreigliedrigen Vers das gesamten altgriechische Denken (ho logos – der Logos), mit dem gesamten biblischen Glauben (ho theos – Gott) zu verschmelzen und damit ins Christentum zu integrieren, ja, unterzuordnen.
Wenn Martin Luther diesen Begriff logos im Johannes-Evangelium mit „Wort“ übersetzt, dann ist das natürlich viel zu dünn. Schon Goethe hat das kritisiert, wenn er seinen Faust sagen lässt:
Geschrieben steht: „Im Anfang war das das W o r t!“
Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort?
Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen,
Ich muss es anders übersetzen,
Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin.
Geschrieben steht: Im Anfang war der S i n n.
Bedenke wohl der ersten Zeile,
Dass deine Feder sich nicht übereile!
Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft?
Es sollte stehn: Im Anfang war die K r a f t !
Doch, auch indem ich dieses niederschreibe,
Schon warnt mich was, dass ich dabei nicht bleibe.
Mir hilft der Geist! Auf einmal seh ich Rat
Und schreibe getrost: Im Anfang war die T a t !
Der Logos darf dabei nicht allein als ein zeitlicher Anfang verstanden werden. Er bezeichnet darüber hinaus den Urgrund, die Causa, das Letztgültige. So ist für Sokrates der logos der letztgültige Grund für jede Sache, für jedes Geschehen, für jedes Handeln. Seine Untersuchungen, das heißt, sein unablässiges philosophisches Fragen zielt darauf, den jeweils letztgültigen Grund zu finden. Denn nur mit dem verstandesmäßigen Erkennen dieses letztgültigen Grundes ergibt sich ihm eine Einsicht, die ihm ein Stück Wirklichkeit verbindlich erklärbar macht.
Wenn man als vermeintlich richtig erkannten Einsichten nicht treu bleiben kann, dann hat man die logos gemäßen Prinzipien noch nicht letztgültig erkannt. Deshalb muss man immer erneut fragen, was sich dem eigenen Verstand als logos erweist. Sokrates hat seine Denkarbeit einmal mit der Arbeit seiner Mutter verglichen. Die war Hebamme. Den logos einer Sache erkennen, ist wie ein Kind zur Welt bringen. Sokrates, der Philosoph, versteht sich als Hebamme des logos. Immer wieder erneut Fragen stellen, damit und bis sich im logos das Letztgültige erweist.
Dabei gibt es für Sokrates zwei unterschiedliche Bereiche, in denen immer wieder nach dem Letztgültigen gefragt werden muss:
1. Der logos der Natur, also des Real-Existierenden
Für Sokrates lässt sich alles Naturgeschehen auf vernünftige Ursachen zurückführen. In seiner Jugend mag er bei dem Philosophen Anaxagoras, später auch bei Archelaos die logische Erklärbarkeit natürlicher Phänomene studiert haben. Beide standen in der Tradition der ionischen Naturphilosophie, in der Nachfolge also so großer Denker wie Thales, Anaximander, Anaximenes und anderer. Sie alle verstanden die Natur als in der Materie begründet und deshalb von der Vernunft her erklärbar.
Natürlich setzt Sokrates in seinem eigenen Denken das naturphilosophische Denken dieser Männer voraus. Sokrates war kein Mann der geistigen Etappe. Aristophanes nimmt den Namen Sokrates gar als Synonym für alle Physiker und Sophisten insgesamt. Doch für Sokrates selbst wurde die logische Erklärbarkeit der natürlichen Phänomene zu selbstverständlich und deshalb zu langweilig. Weil Natur eben logos gemäß als Natur erkennbar ist, hat er sich nicht als Naturforscher engagieren mögen. Schon ziemlich überheblich-ignorant behauptet er gegenüber Phaidros, die Natur könne ihn nichts lehren.
2. Der logos des Gemeinwesens, also der Ethik
Bei der Frage, wie Menschen miteinander umgehen, ist Sokrates voll engagiert. Für ihn steht gerade auch das moralische Handeln des Menschen nicht in willkürlicher Beliebigkeit, sondern gründet in logos gemäßen Verhaltensmustern. Diese bestehen nicht, weil irgendein Mensch oder eine Macht sie befohlen haben, sondern weil sie sich dem Menschen, der über seine subjektiven Grenzen hinausfragt, den Naturgesetzen gleich als objektive ethische Gesetzmäßigkeit erschließen. So ist Sokrates von der Logik her Ethiker.
Die Letztgültigkeit aller ethischen Werte definiert Sokrates als das Gute. Im Griechischen steht a r e t e, das mit dem veralteten Wort Tugend für uns heute nicht mehr vollgültig übersetzt ist. Es meint die Bestheit, das s u m m u m b o n u m – das totale Gute, die höchste Wertigkeit. Dieses vollkommene Gute ist Vorausbedingung allen richtigen Handelns des Menschen. Ja, Sokrates geht sogar so weit, zu behaupten: Wer das Gute erkannt hat, der kann gar nicht anders, als diesem Guten zu gehorchen. Sokrates kann sich nicht vorstellen, dass ein Mensch, der um das letztgültig Gute wirklich weiß, dennoch Unrecht tut.
Es ist das einzige Mal, dass Sokrates eine Definition des Letztgültigen gibt. Dieser singuläre Versuch, mit dem vollkommenen Guten als dem höchsten logos eine letztgültige Antwort auf die Wirklichkeit zu geben, ist denkerisch ein äußerst gewagter Schritt. Denn indem Sokrates sagt: Das nun ist das letztgültig Erkannte, in dem gleichen Augenblick trifft ihn seine eigene skeptische Frage: Ist das wirklich so, mein Freund? Dürfen wir mit unserem Verstand annehmen, dass das Gute in der Welt das Letztgültige ist? Hast Du darüber wirklich konsequent genug nachgedacht?
Spätestens seit dem scharfsinnigen Philosophen Friedrich Nietzsche und dem Existentialisten Jean-Paul Sartre ist das vollkommene Gute von Grund auf in Frage gestellt – ob als Telos der Evolution, als Ziel der Geschichte, als Wesen des Seins oder auch als Handlungsmaxime des Menschen. Denn durch deren philosophisches n i h i l – das N i c h t s als letztem Logos allen Seins erscheint jedes positive Vollkommenheitsaxiom prinzipiell als relativierbar. Dies eben gerade auch in der kritischen Denkmethode radikaler sokratischer Skepsis.
Von daher erweist sich Sokrates` persönliche Antwort des summum bonum als genereller Logos als eher vorletzte Antwort. Gegen die Erkenntnis des Nihil als möglichem letzten Logos ist der sokratische Logos des Guten dann kein letztes Sein. An der von Sokrates gegebenen Antwort ist deshalb nicht dogmatisch-fundamentalistisch festzuhalten. Auch sie ist nur relativ.
Entscheidend wichtig allerdings bleibt gerade auch damit die Denkmethode des Sokrates, der immer erneute Wissensdrang nach vorne auf säkulare Erkenntnis hin. Diese Denkmethode auf den Logos hin ist seine sensationelle geistige Leistung, die Geburt der säkularen Wissenschaft. Sokrates hat die rationale Wissenschaft nicht expressis facultatibus erfunden. Sokrates war kein Naturwissenschaftler, kein Physiker, kein Chemiker, kein Biogenetiker. Sokrates war – wie wir heute sagen – eher Erkenntnistheoretiker. Er hat das Entstehen der Naturwissenschaften methodisch vorbereitet, indem er jene erkenntnistheoretischen Voraussetzungen geschaffen hat, mit denen man überhaupt strenge naturwissenschaftliche Arbeit betreiben kann.
Zugleich wird darin die letzte Schärfe sokratischen Denkens erkennbar, der Weg aus der Religion in die Wissenschaft: Nahezu zwangsläufig tritt der Mensch mit Sokrates aus der Geborgenheit mythischen Verstehens in die kritische Offenheit, gar Verlorenheit rationalen Begreifens. Der Mensch in der abendländischen Geistesgeschichte hat durch sein rationales Erkennen immer erneut nackte Wirklichkeits-schocks erlitten, die ihn aus mythischer Geborgenheit herausgerissen und bis an den Rand totaler Sinnlosigkeit, des Nihil, getrieben haben.
Diese Umbrüche ähneln dem Verlust- und Verlorenheitsgefühl eines Kindes, das bislang fest an den Klapperstorch glaubte oder an den Osterhasen oder den Weihnachtsmann, und plötzlich die nackte Wahrheit erkennt, dass es das alles real gar nicht gibt. Dem Kind zerbricht damit nicht nur sein vertrauter mythischer Wissensbestand. Dem Kind zerbricht damit seine Urnaivität, sein Urglaube. Es wird getroffen von der brutalen Erfahrung des Erwachsenwerdens, dass es etwas gar nicht gibt, worauf es sich geradezu vorbehaltlos verlassen hat. Nie wird das Kind, wird der Mensch, wieder so rückhaltlos glauben können wie in seinem naiven Urvertrauen.
Diese Erfahrung von Entsicherung, von Loslösung und Verlust ist der Einstieg in ein kritisches Selbstbewusstsein, in die Existenz eines sich der Wirklichkeit gegenüber selbst verantwortenden Menschen.
Sokrates ist Atheist – Atheist in s e i n e r Zeit.
Sein Denken hat den Rahmen seiner Bewusstseinsepoche gesprengt. Das bedeutet speziell, dass Sokrates den mythischen Glauben radikal in Frage gestellt hat. Er ist mit seinem Fragen in einen inneren Denkzwang hineingeraten, der es ihm unmöglich machte, bei vorletzten Antworten beruhigt stehen zu bleiben. Er war geradezu besessen von dem Willen, nur das gelten zu lassen, was sich seinem Denken als letztgültig überzeugend darstellte – mit dem Risiko, das Althergebrachte zu verlieren – die vertrauten Kindheitsmythen, die religiösen Gewohnheiten und Illusionen, die Götter, Gott.
Sokrates ist Atheist – Atheist am Anfang u n s e r e r Zeit.
Auf seinem Denkweg in den Verlust Gottes sind alle Grundprobleme angelegt, die uns auch heute bewegen. Natürlich hat er die geistesgeschichtliche Entwicklung nicht vorausschauen können, die ihm über 2400 Jahre auf uns hin gefolgt ist. Viele konkrete Fragen und schon gar Antworten, die uns heute bewegen, können deshalb bei ihm nicht abgeholt werden. Aber Sokrates zeigt uns heute noch mit seinem Tod, dass ein ehrlich denkender Mensch auch ohne Gott nicht nur aufrecht leben, sondern auch aufrecht sterben kann.
(7) Todesurteil gegen Sokrates durch die ewig Gestrigen
Der Prozess ist entschieden. In doppelter Abstimmung haben die Richter den Philosophen gemäß der Anklage wegen Gottlosigkeit zum Tode verurteilt. Nach dem Urteilsspruch hält Sokrates seine dritte Rede. Abschiedsworte. Der Tod ist für ihn kein Grund, billig zu sein. Der Tod erschreckt ihn nicht. Unmittelbar vom Tod bedroht, bekennt Sokrates seinen Anhängern, dass er nicht bereit sei, logos gemäße Einsichten aufzugeben, nur weil es ihn das Leben kostet. Ihr geht zurück ins Leben, ich gehe in den Tod. Wer geht seinen Weg mit aufrichtigem Bewusstsein?
Eigentlich hätte das Urteil sofort vollstreckt werden müssen, noch am gleichen Tag vor Sonnenuntergang. Doch die Polis Athen hatte in diesen Tagen eine heilige Pflicht zu erfüllen. Anlässlich des Sieges über die Perser hatte Athen einen Schwur geleistet, jedes Jahr zum Jahrestag ein Schiff mit Gesandtschaft nach Delos zu schicken, um dort ein Dankopfer zu bringen für den einstigen Sieg. Bis zur Rückkehr dieses Schiffes durfte in Athen kein Todesurteil vollstreckt werden. Dieses Parallelereignis zum Todesurteil gegen den Gottesleugner Sokrates zeigt noch einmal die innere Verbundenheit der Stadt Athen mit ihren religiösen Kulten und damit die politische Bindung der Athener an die Götterdienste als höchste Bürgerpflicht.
Der Delinquent Sokrates muss also warten, warten bis das Schiff aus Delos vor Kap Sunion, der Landzunge vor Athen, am Horizont auftaucht. Dann der letzte Tag: Noch einmal versammeln sich die intimsten Freunde in der Todeszelle. Völlig aufgelöst sind seine Frauen mit den Kindern. Sokrates lässt sie freundlich aus der Zelle hinausbringen, um ein letztes Gespräch mit seinen Freunden führen zu können. Noch lange vor Sonnenuntergang ruft er den Gefängniswärter. Wie wird´s gemacht? Ohne Zögern ergreift er den Becher mit dem Todesgift, bleibt gelassen selbst im Sterben bis zum letzten Atemzug. Er war, so der Wärter, der beste Mensch.
Fassungslos über ihre Untat sind kurz darauf die Athener selbst. Keiner will es mehr gewesen sein. Als Zeichen ihrer Trauer schließen sie alle Theater, alle Sportstätten. Den Meletos verurteilen sie zum Tode, denn der war doch schließlich der Hauptankläger. Alle Athener zusammen bauen Sokrates wenige Jahre nach dessen Tod stolz ein Denkmal – ihm, beim Zeus, dem großen Sohn der Stadt Athen!
Aber eigentlich verschärft das ihre Untat nur noch. Die ewig Gestrigen rühmen sich morgen nur zu gern dessen, was sie heute in Grund und Boden verdammen: Die Herren Richter, die 289 von 500 der ersten Abstimmung und die 76 zusätzlich bei der zweiten Abstimmung, die wie selbstverständlich heute der Meinung waren, dass aus Recht und Ordnung, wegen Moral und Götterglaube das Todesurteil gefällt werden müsse, aber morgen am liebsten mit eigener Hand das Ehrenmal ihres Opfers enthüllen – und damit in einer letzten Perversion den Mann des geistigen Fortschritts in ihre reaktionären Dienste nehmen, ohne selbst ihren Geist wirklich verändert zu haben.
Ein entsprechendes Beispiel aus unseren Tagen: 1984 spricht der Papst und damit die katholische Kirche Galileo Galilei frei – nach nahezu 400 Jahren! Sie haben ihn wegen seiner geistigen Erkenntnisfortschritte bespitzelt, verketzert, verfemt. Sie haben ihn verfolgt und eingesperrt bis zum Widerruf und zur Resignation unter die päpstliche Wahrheit. Und diese Institution, die seit 400 Jahren mit diesem Mann alle Wirklichkeit gegen sich hat, die dennoch Jahrhunderte lang ihre falschen Wahrheiten durchgehalten hat und in unzähligen anderen Positionen bis heute weiterhin durchhält
– die spricht frei? Die rehabilitiert? Die spielt sich immer noch auf als die bindende und lösende Instanz? Die maßt sich an, Belobigungen erteilen zu dürfen, wo sie selber unentschuldbar schuldig geworden ist an Körper, Geist und Seele ihrer Opfer? Die verkauft ihre geistigen Gräueltaten im Nachhinein mit hochherzigen Heilswerken?
Oder Giordano Bruno. Ihn haben sie am 17. Februar 1600 in Rom auf dem Scheiterhaufen verbrannt, einen Mann von geradezu quälender Wahrheitsliebe und Gottsuche im Umbruchdenken der Neuzeit. Er hatte als erster erkannt, dass der Weltraum unbegrenzt offen sein müsste. Als er schon brannte, hielt ihm der Priester höhnisch den Kruzifixus vors Gesicht mit der Aufforderung, er solle zur Rettung seines ewigen Seelenheils allem abschwören, was er gedacht habe, und sich zur Wahrheit der Kirche bekennen. Giordano hat mit letzter Kraft auf den gekreuzigten Christus gespuckt: In den Himmel dieser christlichen Henker wolle er nicht gerettet werden, nicht erlöst werden von einem Gott, der solche Menschen im Dienst hat.
Man wird den Eindruck schwer los, dass auch Sokrates nicht bereit war, sich wegen des drohenden Todesurteils der beschränkten Geisteshaltung seiner Ankläger und Richter unterzuordnen. Er hat während des Prozesses ganz gezielt und vorsätzlich nichts getan, um ihnen gegenüber Abbitte zu leisten. Von diesen geistigen Attentätern im Namen des Höchsten sich nicht belobigen, sich nicht rehabilitieren, sich nicht retten lassen! – das bedeutet bis zuletzt den aufrechten Gang eines Menschen. Sein Geist war höher als ihre Gewalt, sein Selbstverständnis sicherer als die geballte Versammlung ihres Unverstandes. Gegen all diese Bewahrer des rechten Weges wurde sein Vorbild Richtung weisend für die sich selbst verantwortende Geistesfreiheit des autonom denkenden Menschen.
Denn noch etwas überaus Wichtiges kennzeichnet den Philosophen Sokrates in seinem autonomen Selbstverständnis eben gerade auch als demokratisches Individuum:
Alle anderen Philosophen, die Athen angeklagt und zum Tode verurteilt hat – Anaxagoras, Protagoras, später auch Aristoteles und andere mehr – haben sich per Flucht der Urteilsvollstreckung entzogen. Nach dem Todesurteil hatten seine Freunde auch für Sokrates alles für eine Flucht vorbereitet – vielleicht sogar mit Wissen derjenigen, die letztverantwortlich für die Verurteilung waren. Das Fluchtschiff lag im Hafen bereit, um mit ihm in See zu stechen. Der alte Freund Kriton kam zu Sokrates in die Todeszelle, um ihm mitzuteilen, dass alles zur Flucht vorbereitet sei. Er brauche nur in der Dunkelheit der Nacht einzusteigen.
Doch Sokrates hat eine Flucht vor der Vollstreckung abgelehnt und dem untröstlichen Kriton das so erklärt:
Wenn ich für die Demokratie stehe, dann muss ich mich ihrer Rechtsprechung beugen, auch wenn sie mich persönlich trifft. Würde ich mich dem Urteil entziehen, würde ich praktisch gerade das System in Frage stellen, für das ich doch im Prinzip kämpfe. Ich würde also der Demokratie und damit meiner eigenen Überzeugung einen betrügerischen Dienst erweisen.
Denn kein Zweifel: Prozess und Urteil waren im Fall Sokrates demokratisch korrekt. Seine Flucht wäre also ein Zeichen von höchster Unmoral der Demokratie und deren Rechtstaatlichkeit gegenüber gewesen. Also folgte er seinen Grundsätzen gemäß dem, was er als prinzipiell für richtig (Logos gemäß) anerkannte, auch da, wo es ihn persönlich hart traf. Er war Demokrat von höchster persönlicher Integrität, seine Todesbereitschaft gegenüber dem Urteil die moralische Zeichenhandlung eines in sich selbst ruhenden autonomen Menschen.
Sokrates war der bedeutendste Mensch des Abendlandes, bedeutender als Jesus Christus, so urteilt der Philosoph Bertrand Russell 1958 in einem Rundfunkvortrag über den Philosophen aus dem alten Athen. Russell steht mit dieser Wertschätzung in der Tradition des einflussreichen deutschen Philosophen Friedrich Hegel, denn schon Hegel sah in Sokrates d i e welthistorische Persönlichkeit, den Wendepunkt der Menschheitsgeschichte.
Wollte man die außerordentliche Bedeutung des Philosophen Sokrates für das gesamte Abendland deutlich machen, dann müsste man die europäische Zeitrechnung nicht mit der Geburt Jesu Christi beginnen, sondern mit dem Tod des Sokrates. Sein Denken wurde zum ureigensten Wesen des Abendlandes. Deshalb:
Wir denkenden Abendländer leben heute
weniger im Jahre 2013 nach Christi Geburt
als vielmehr im Jahre 2414 nach dem Tod des Sokrates.
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Autor: Paul Schulz