Buch 09: Atheistische Positionen

Philosophiegeschichte des Atheismus im Abendland

Diskurs 09.620


Ludwig Feuerbach.
Die Aufdeckung der Religion als Projektion des Menschen

(1) Hegelkritik.

Anders als der Katholizismus hat der Protestantismus philosophisch offener auf die naturwissenschaftliche Herausforderung der Neuzeit reagiert, ja, er hat versucht, den Faktor Gott noch einmal geradezu offensiv in den generellen gesellschaftlichen Denkprozess einzubringen. Mit diesem Ziel erreichte die Philosophie im Deutschen Idealismus zum letzten Mal ein in sich geschlossenes metaphysisches System – mit dem Göttlichen als das Maß aller Dinge. Ihr wirkungsvollster Repräsentant war

Georg Wilhelm Friedrich Hegel

Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 bis 1831).
1818 erhielt er einen Ruf an die Universität Berlin als Professor für Philosophie. Berlin war damals schon unter dem Preußen-König Friedrich Wilhelm III und seiner geistvollen Frau Luise eine wissenschaftliche Hochburg. Denn seit Johann Gottlieb Fichte die Universität 1810 als Rektor eröffnet hatte, strahlte ihr Glanz weit über Berlins Grenzen hinaus.

Bereits in seiner Antrittsvorlesung am 22. Oktober 1818 hatte Hegel angekündigt, dass er die Philosophie zu völlig neuen Ufern führen werde. Und in der Tat: In wenigen Jahren erlangte Hegel von Berlin aus eine zentrale geistige Stellung in ganz Deutschland. Er wurde nicht nur bestimmend für Philosophie und Theologie. Sein Denksystem überwölbte unter dem Postulat des Höchsten-Göttlichen letztlich alle Wissensbereiche bis hin zu den Naturwissenschaften als eine grandiose metaphysische Zusammenschau des Wirklichen insgesamt.

Phänomenologie des Geistes

Einzigartig dabei war Hegels Lehre vom Weltgeist. Schon als Privatdozent in Jena hatte er darüber Vorlesungen gehalten, hatte am Vorabend der Jena-Schlacht 1806 sein gerade fertiges Buchmanuskript PHÄNOMENOLOGIE DES GEISTES wie einen Schatz in einem Wäschekorb aus der Stadt geschmuggelt, das grundlegende Werk seiner Philosophie. In ihm gibt er mit der Kategorie Geist eine umfassende Deutung des reinen Seins.

Der Geist ist immer:

Der Geist bestand  v o r aller Welt als die Totalität aller Ideen.

Der Geist durchdringt  i n der Welt die Natur und die Geschichte.

Der Geist erreicht  n a c h der Welt seine höchste Stufe als absolute göttliche Vollkommenheit.

Diese Geist-Entfaltung will Hegel verstanden wissen als einen ständigen Prozess des Werdens, in dem sich das Sein in einem dialektischen Voranschreiten in These – Antithese – Synthese zu immer höheren Vollkommenheitsformen entwickelt. Der Mensch selbst ist durch sein Denken an diesem Prozess der Entfaltung des Geistes beteiligt. Hegel sah nicht zuletzt seine eigene Philosophie als höchstmöglichen Ausdruck des Geistes in der Welt.

Unter Hegels Katheder in Berlin saßen die Hörer dicht gedrängt, nicht nur Studenten aller Fakultäten, auch Offiziere, Ministerialräte, obere und untere Chargen der Verwaltung, Bürger aus allen Schichten. Hegels Vorlesungen waren ein gesellschaftliches Ereignis, ein staatspolitisches Offizium. Dabei war die Hörerschaft in zwei konträre Lager gespalten:

– Die eine bildeten die Rechtshegelianer. Das waren all die erklärten Konservativen, die in Hegels Weltgeist die Aufrechterhaltung der absoluten Autorität sahen und zwar in der christlichen Religion als Sitte und Moral und im monarchistischen Staat als Recht und Staatsraison. Ihnen galt Hegel als  d e r  preußische Staatsphilosoph;

– Die andere bildeten die Linkshegelianer. Das waren dagegen die jungen Wilden, Männer von nachfolgend großer Bedeutung, etwa David Friedrich Strauß, der liberale Theologe, Walter Bauer, der mutige Verleger, Pierre Lassalle, der brillante Arbeiterführer; und im weiteren Umfeld auch Friedrich Engels und Karl Marx, die Träger der kommunistischen Internationale, Männer also von gesellschaftsveränderndem Geist. Ihr philosophischer Spitzenreiter war unbestritten

Ludwig Feuerbach

Ludwig Feuerbach (1804 bis 1872).
Er wurde in Landshut in Bayern geboren. Sein Vater war ein höchst angesehener Jurist, beauftragt vom bayerischen König, ein neues Strafgesetzbuch für das Königreich Bayern zu entwerfen, das 1813 auch genehmigt und eingeführt wurde. Der junge Ludwig Feuerbach sah dagegen seine persönliche Berufung in der Theologie. Voller Enthusiasmus ging er zunächst an die Universität Heidelberg. Unter dem Einfluss des Theologen Karl Daub, einem begeisterten Hegelfreund, wurde dort aber schnell sein Interesse an der Philosophie entfacht, und nicht einmal die verbieterischen Bedenken seines strengen Vaters konnten ihn daran hindern, von Heidelberg nach Berlin zu gehen und damit von der Theologie in die Philosophie zu wechseln.

So saß Feuerbach in Berlin dem großen Philosophen Hegel zu Füßen, fasziniert von der Realitätsnähe hegelscher Denkweise. Denn Hegel entwarf mit seiner Weltgeisttheorie zwar eine total spekulative Philosophie, ein gleichsam virtuelles Seinsmodell; aber zugleich durchschritt er in seinen Vorlesungen in großen Bögen konkrete Weltgeschichte, öffnete seinen Hörern ungeahnte universalhistorische Perspektiven. Er hielt auch gerne Vorlesungen etwa zum Thema Philosophie der Weltgeschichte, und gab somit seinen philosophischen Spekulationen ganz konkreten Stoff. Gerade damals entwickelte sich mit dem positiven Historismus zunehmend die Darstellung der Weltgeschichte als objektive, ja, geradezu naturwissenschaftliche Wissenschaft innerhalb der Geisteswissenschaften. Feuerbach war von Hegel hingerissen: Ich atme die freie Luft des freien Geistes …

Feuerbachs eigenständiges philosophisches Denken verfing sich in einer Feststellung Hegels, die aufs Ganze gesehen wohl eher eine religionshistorische Randbemerkung gewesen sein mochte. Hegel hatte zur Religion der alten Griechen festgestellt, dass diese wegen ihrer Anthropomorphismen zugrunde gegangen sei. Das sollte heißen: Die alten Griechen hätten in ihre Götter ihr eigenes menschliches Wesen hineingelegt. Deshalb seien ihre Götter letztlich nichts anderes als das Spiegelbild ihres eigenen Menschseins. Folglich sei die Götterwelt des Olymp mit all ihren menschgestaltigen Wesen nichts anderes als menschliche Projektion – und damit so vergänglich, wie Menschliches eben vergänglich sei.

Diese Ausführungen hatte Feuerbach in Hegels Vorlesung zur Ästhetik gehört. Dass Hegel solch Urteil über die Religion ungestraft aussprechen konnte, lag natürlich daran, dass die Götterwelt der Griechen ja seit über 2000 Jahren zusammengebrochen war. Niemand musste sich dadurch heute verletzt fühlen. Im Gegenteil. Diese Feststellung machte die Bedeutung des Christentums als einer lebendigen Religion nur um so strahlender, denn mit der niederen Stufe der griechischen Religion wurde die höhere Stufe des Christentums um so plastischer herausgestrichen als ein Voranschreiten des absoluten Geistes.

Brisant wurde Hegels Projektionsthese aber in dem Augenblick, in dem sie über die griechische Religion hinaus auf die Religionen allgemein und auf das Christentum insbesondere weitergedacht würde. Das hieß dann: Die Religionen insgesamt – auch die christliche Religion – sind nichts anderes als Spiegelbild des Menschen; alle transzendentalen Offenbarungsaussagen der Bibel – auch alle kirchlichen Dogmen – sind nichts weiter als spekulatives Reden des Menschen.

Das allerdings war Feuerbach schon gleich an Hegel aufgefallen, dass er in seiner Gottphilosophie eigentlich nicht anders redete als ein Pastor – rein spekulativ, aber viel hochtrabender. Wie anders sollte man Hegels Feststellung bewerten, wenn er auf die Frage, was denn der Gegenstand seiner WISSENSCHAFT DER LOGIK sei, antwortete: Ich schreibe das, was Gott vor der Schöpfung gedacht hat. Genau das ist spekulative Theologie oder theologische Spekulation.

(2) Alle Theologie ist Anthropologie.

Gott – selbst der christliche Gott – ist nicht mehr als menschliche Projektion. Das war Feuerbachs nüchterne Antwort. Der Mensch schafft sich seinen Gott.

Das Wesen des Christentums

Eben diese These vertritt Feuerbach in seiner revolutionierenden Schrift DAS WESEN DES CHRISTENTUMS, die er 1841 veröffentlichte. Gleich zu Beginn des ersten Teils führt Feuerbach seine These kompromisslos durch: Die Religion ist das bewusstlose Selbstbewusstsein des Menschen. In der Religion ist dem Menschen sein eigenes Wesen Gegenstand, ohne dass er weiß, dass es das seinige ist; das eigne Wesen ist ihm Gegenstand als ein andres Wesen. Die Religion ist die Entzweiung des Menschen mit sich selbst. Er setzt sich Gott als ein ihm entgegen gesetztes Wesen gegenüber.

Nicht Gott ist Schöpfer des Menschen, vielmehr: Der Mensch ist Schöpfer Gottes. Nicht Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, der Mensch, jeder Mensch, schafft sich Gott nach seinen menschlichen Vorstellungen. Deshalb ist Gott kein eigenständig existierendes Wesen, Gott existiert nur als Vorstellung des Menschen. Der Mensch ist Ausgangspunkt für das Sein Gottes, der Mensch ist Mittelpunkt für das Sein Gottes, der Mensch ist Ende für das Sein Gottes. Deshalb hat noch nie und nirgends Gott zu den Menschen geredet, sondern immer nur haben Menschen auf Gott hin geredet.

Von daher definiert Feuerbach staccato:

Gott ist des Menschen entäußertes Selbst.
Oder:

Das göttliche Wesen ist nichts anderes als das menschliche Wesen.
Oder:

Das Wissen von Gott ist das Wissen des Menschen von sich, von seinem eigenen Wesen.
Oder:

Die Lehre von Gott ist die Lehre vom Menschen.
Oder:

Homo homini deus – der Mensch ist dem Menschen Gott.

In summa:
Redet der Mensch von Gott, dann redet der Mensch von sich selbst.

Feuerbach setzte damit eine radikale Antithese zur gesamten spekulativen Denkweise Hegels:

Der absolute Geist, der Geist Gottes, der Weltgeist gar,
ist eben nicht die vorausgehende Qualität des „reinen Seins“

er ist vielmehr die Folge menschlichen Bewusstseins.

Seine Kritik am Unsinn des Absoluten bedeutete deshalb konkret: Alle spekulativen Seinstheorien und damit jede spekulative Philosophie und Theologie zielen mit ihrem Postulat des eigenständig Absoluten auf eine fatale Verdrehung der Realität. Sie gaukeln damit der realen Welt eine transzendente Scheinwelt vor, die es als eigen-ständige Realität überhaupt gar nicht gibt.

Damit kam es jetzt noch einmal voll zu jenem fundamentalen Erkenntniskonflikt, den schon Wilhelm Ockham (1298 bis 1349) mit seiner Kritik an der thomistischen Theologie der Scholastik heraufbeschworen hatte. Gegen die universalistische Absolutsetzung des Allgemeingültigen in einer fiktiven Eigenwelt hatte Ockham festgestellt: Alles Reden von den Universalien als den Grundlagen des Seins an sich ist nichts anderes als das spekulierende Denken des Menschen darüber. Deshalb seine These: universalia  p o s t  rem – die Universalien bestehen nur im Kopf des Menschen.

Jetzt nahm Feuerbach diese Fundamentalkritik neu auf und formulierte in unerbittlicher Schärfe gegen jedwede spekulative Philosophie und Theologie:

Alle Theologie ist Anthropologie.

Schon damals im Mittelalter wurde Ockham wegen seiner kirchenwidrigen Aussagen verfolgt. Ihm wurde die Lehrlizenz verweigert, seine Bücher wurden verboten, er selbst eingesperrt und exkommuniziert. Feuerbachs Thesen waren der christlich-bürgerlichen Gesellschaft zur Mitte des 19. Jahrhunderts ebenso eine Ungeheuerlichkeit. Sie galten den Verantwortlichen als Umsturz aller bisher geltenden Denkvoraussetzungen.

Mit Recht. Denn Feuerbach selbst glaubte, mit seiner Analyse der christlichen Religion alle spekulative Theologie und Philosophie endgültig überwunden zu haben und damit eine menschliche Selbstbefreiung zu bewirken. Doch die Offiziellen reagierten mit heller Empörung. Die institutionellen Akademikerkreise verschlossen ihm den Zugang zu einer Professur und zerstörten Feuerbachs letzte Hoffnung auf eine Universitätskarriere. So blieb er immer „nur Privatgelehrter“. Der Wirkung seiner Religionskritik hat das allerdings kaum Abbruch getan.

Für seine These nun, dass Gott nichts als eine Projektion des Menschen sei, führt Feuerbach in seinem Wesen des Christentums eine Vielzahl von Belegen als Beweismaterial an. Immer wieder zeigt er auf, dass religiöse Bekenntnisse rein menschlichen Ursprung haben, theologische Aussagen menschliche Konstruktionen sind, das Göttliche sich als das rein Menschliche erklärt.

Doch streng genommen ist keiner seiner Belege im Sinne einer wissenschaftlichen Beweisführung ein Beweis dafür, dass es nicht dennoch einen außermenschlichen Gott gibt. Gott als Projektion des Menschen schließt einen außermenschlichen Gott zwingend nicht aus. Selbst wenn alles bisherige Reden Gottes anthropologisch bedingt wäre, könnte Gott theoretisch sehr wohl als eigenständige Größe außerhalb des Menschen manifest sein.

Feuerbachs Schlussfolgerung, dass es Gott nicht gibt, ist deshalb – ganz streng genommen – nur ein anthropologischer Atheismus. Das heißt: Sein Atheismus gilt nur insoweit, als er sich auf die menschliche Selbsterkenntnis bezieht, das Sein also nur innerhalb des menschlichen Bewusstseins definiert, die Wirklichkeit nur als menschliche Naturerfahrung reflektiert wird.

Selbst wenn man alle seine Belege dahingehend akzeptierte, dass wirklich keiner von ihnen einen Beweis für einen außermenschlichen Gott bringt, hieße das doch letztlich nur: Was sich im speziellen Menschsein ausschließt, bleibt im generellen Weltsein als Option offen. Der Schluss allein aus dem rein Menschlichen auf das generelle Sein definiert nicht letztgültig das Sein.

Dennoch ist Feuerbachs anthropologischer Atheismus von ungeheurer Bedeutung. Denn der Beweis, dass es Gott über einen Anthropologischen Atheismus hinaus dennoch gäbe, wird jetzt zur Bringeschuld derjenigen, die Gott als eine außermenschliche Größe behaupten. Die transzendentale Spekulation muss beweisen, dass es über die anthropologische Konditionierung hinaus Gott dennoch im Außermenschlichen, gar Außerweltlichen, gibt. Die Gottbehaupter selbst sind also im Zugzwang. Sie müssen jetzt reale Belege für das von ihnen optierte Jenseits bringen.

Die – mit Feuerbach – vollzogene Abkehr des Atheisten von einer solchen jenseitigen Gottsuche gilt deshalb – erkenntnistheoretisch – uneingeschränkt bis zu einem Beweis des außermenschlich Transzendenten. Hochtrabende Hermeneutik, gläuberische Apologetik, gar schlicht fromme Entrüstung sind selbst immer erneut nur eine Verschleierung der Tatsache, dass über die anthropologischen Erklärungen der Religion hinaus auch weiterhin keinerlei Beweise für einen eigenständigen außermenschlichen, gar außerweltlichen Gott vorliegen.

(3) Anthropologischer Materialismus

Feuerbachs Rückführung der Gottes- und Religionsvorstellungen auf das menschliche Bewusstsein wurde noch in einem ganz anderen Sinn richtungweisend. Denn Feuerbach stellte nicht nur fest, d a s s der Mensch Gott projektiert, sondern zunehmend auch w a r u m und  w i eEr analysiert die menschlichen Gründe der Religionsbildung.

Damit dringt er immer stärker in die Psyche des Menschen ein, und es öffnet sich ihm das weite Spektrum der menschlichen Bedürfnisse als Frage nach dem Menschen selbst. Philosophie wird ihm somit zu einer anthropologischen Philosophie, der Einstieg in eine differenzierte Psychologie in der Zuspitzung: Der Mensch in seinem Eigennutz (Feuerbach: Egoismus) ist die Wurzel aller Religion und Theologie. So erkennt Feuerbach Sehnsüchte und Wünsche des Menschen, aus denen heraus Religion freigesetzt wird: Was der Mensch nicht wirklich ist, aber zu sein wünscht, das macht er zu seinem Gotte oder das ist sein Gott.

Der Gottesbegriff stammt nicht aus der Erfahrung mit einem wirklich handelnden Gott. Der Gottesbegriff stammt aus der menschlichen Sehnsucht, also aus einem psychosomatischen Mangel:

–    Der Mensch ist sterblich, Gott ist unsterblich:
der Mensch will wie Gott ewig leben.

–    der Mensch ist böse, Gott ist gut:
der Mensch will wie Gott edel, hilfreich und gut sein

–    der Mensch ist geistig begrenzt, Gott ist allwissend:
der Mensch will erkennen und wissen wie Gott.

Eine endlos dualistische, gegenpolige Reihe: All das, was der Mensch nicht ist, nicht vollständig ist, setzt er in Gott absolut und über Gott und einer gläubigen Teilhabe an ihm zum vollkommenen Ziel seiner selbst: Religion sind unbegrenzt Träume der Glückseligkeit.

Mit seiner anthropologischen Philosophie vollzieht Feuerbach zugleich einen bedeutsamen Einstieg in einen anthropologischen Materialismus. Er sucht – kompromisslos gegen Hegel – nach dem Ort des wirklichen Seins und findet ihn in der Wesenhaftigkeit des Menschen, das heißt in der menschlichen Natur. Die ureigene Natur des Menschen ist ihm dessen Sinnlichkeit, das bedeutet: Die Sinne, also die physiologischen, das heißt, materialistischen Reize, bilden die Grundlage aller Erkenntnis. In den Wahrnehmungen der Sinne wird dem Menschen das Dasein als die einzige unmittelbar gegebene reale Welt fassbar, Wahrheit, Wirklichkeit, Sinnlichkeit sind identisch.

Von diesem anthropologischen Materialismus aus kommt Feuerbach immer überzeugender zu einem atheistischen Materialismus: Es gibt nichts am Menschen, was nicht im Menschen selbst liegt. Gerade auch der Geist ist wesenhaft nicht übersinnlich außerhalb, sondern sinnlich in der Natur des Menschen begründet. Indem sich aber alles am Menschen so aus dem Menschen heraus erklärt – auch sein Geist, auch seine Religion, auch sein Gott – wird Gott als übermenschliche Größe überflüssig. Nichts sprengt den Rahmen atheistisch-materialistischer Definition menschlicher Natur.

Den Menschen so aus sich selbst heraus atheistisch-materialistisch als Natur zu verstehen, heißt zugleich, die Natur aus sich selbst heraus atheistisch-materialistisch zu verstehen. Es gibt nichts in der Natur, was nicht aus der Natur selbst ist. Die Natur ist somit autonom. Indem sich aber Natur als Natur erklärt, wird Gott letztlich auch als supranaturale Größe überflüssig. Offene Fragen zur Natur dürfen nicht als spekulative Fluchtwege benutzt, sondern nur zum Anlass genommen werden, tiefer in die Natur hinein zu fragen.

Denn wenn der Mensch die Natur noch nicht ausreichend versteht und sie deshalb supranatural begründet, sagt das nichts über einen außer-weltlichen Gott, sondern nur wieder, dass der Mensch Gott aus rein menschlichen Gründen formuliert, eben weil er es (noch) nicht besser weiß. Wieder ist der (Erkenntnis-) Mangel Ursache, Gott zu erfinden.

Ein solcher elementarer Erkenntnisfortschritt der Natur war für ihn Darwins neue Evolutionstheorie. Nicht, dass er sie als Prinzip der Natur in seinem Anthropologischen Materialismus hat bereits voll umsetzen können. Aber in seinen späten Arbeiten hat er den Evolutionsgedanken in der Beurteilung der Religion über das Wesen des Christentums hinaus zumindest generell aufgenommen mit der Feststellung, es mache keinen Unterschied, ob Polytheismus oder Monotheismus geglaubt wird. Immer seien die Götter oder Gott nur der Inbegriff der Gattung Mensch, der Mensch des Wunsches, der Idealmensch.

Dieser konsequent anthropologische Denkansatz Feuerbachs – atheistisch-materialistisch – gilt als bahnbrechend. Die Philosophiegeschichte hat ihn als Anthropologische Wende gewürdigt. Feuerbachs Axiomatik im ausschließlich Menschlichen ist ein elementarer Vorausgriff auf Sigmund Freud: Dessen Psychoanalyse – Triebstruktur als Grundbedingung der menschlichen Natur – wird diesen anthropologischen Ansatz in letzter Konsequenz aufnehmen und damit Feuerbachs großartige Denkleistung empirisch weiterführen. Es versteht sich, dass auch Sigmund Freud sich selbst und seinen Wissenschaftsansatz rein atheistisch verstanden hat.

(4) Karl Marx: 11 Thesen gegen Feuerbach

Die epochale Denkleistung Feuerbachs gegen alle spekulative Philosophie hat Friedrich Engels (1820 bis 1895) in einem berühmten Votum gewürdigt: Da kam Feuerbachs WESEN DES CHRISTENTUMS. Mit einem Schlag zerstäubte es den Widerspruch, indem es den Materialismus ohne Umschweife wieder auf den Thron erhob. Die Natur existiert unabhängig von aller Philosophie; sie ist die Grundlage, auf der wir Menschen, selbst Naturprodukte, erwachsen sind; außer der Natur und den Menschen existiert nichts, und die höhern Wesen, die unsere religiöse Phantasie erschuf, sind nur die phantastische Rückspiegelung unsers eigenen Wesens … Man muss die befreiende Wirkung dieses Buches selbst erlebt haben, um sich eine Vorstellung davon zu machen. Die Begeisterung war allgemein: Wir waren alle momentan Feuerbachianer.

In geistiger und menschlicher Nähe zu Friedrich Engels stand

Karl Marx

Karl Marx (1818 bis 1883).
In Trier geboren, stammte Marx aus einem Pastorenhaus. Als er Feuerbachs WESEN DES CHRISTENTUMS las, war er 23 Jahre alt. Wie sehr diese Lektüre sein Bewusstsein verändert hat, beschreibt er selbst mit dem Satz: Wir wären alle nicht, hätte uns Ludwig Feuerbach nicht die Augen geöffnet. Er war es, der uns befreit hat.

Dennoch setzt er sich in seiner wichtigen Frühschrift DIE DEUTSCHE IDEOLOGIE aus den Jahren 1845/46 äußerst kritisch mit Feuerbach auseinander. Er legt damit zugleich den Grundstock für das KOMMUNISTISCHE MANIFEST von 1849. Erst sehr viel später wird DAS KAPITAL fertig: Erster Band 1867. Nach seinem Tod: Zweiter Band 1885, dritter Band 1894. Friedrich Engels, sein treuer Freund, mit dem er sein Leben lang eng zusammengearbeitet hat, stirbt 12 Jahre nach ihm 1895.

Marx hat sich lange Zeit bemüht, Feuerbach in das Lager der kommunistischen Bewegung hineinzuziehen. Doch Feuerbach hat sich nicht ziehen lassen. Er hat sich standhaft geweigert, aus seiner philosophischen Position in die Gestalt eines gesellschaftspolitischen Revolutionärs zu mutieren. Er wollte Philosoph, radikaler Philosoph bleiben. Ganz unabhängig davon fühlte er sich mit der Revolution von 1848 der demokratischen Bewegung verbunden und war davon überzeugt, dass nicht der absolute Herrscher, sondern das Volk der Souverän sei. Kurz vor seinem Tod hat er Marx´ KAPITAL gelesen und ist schließlich doch noch in die Sozialistische Partei eingetreten.

Dennoch hat Marx den Philosophen Feuerbach scharf angegriffen und in diesem Angriff seine eigene Position weiterentwickelt. So schreibt er schon 1845, also nur vier Jahre nach FeuerbachsWESEN DES CHRISTENTUMS seine wichtige Schrift DIE DEUTSCHE IDEOLOGIE
mit den (ELF) THESEN ÜBER FEUERBACH, gipfelnd in der folgenschweren Schlussthese

These 11:

Die Philosophen
haben die Welt nur verschieden interpretiert,
es kommt darauf an, sie zu verändern.

Der Philosoph interpretiert die Welt nur.
Marx meint das böse. Das Denken der Philosophen und Theologen strebt hochtrabend immer über das Irdische hinaus, sucht Begründungen außerhalb der Welt, Erklärungen also, die gar nicht in unserer Welt liegen, sondern in der Welt der Ideen, in der Welt des Göttlichen, des Jenseitigen überhaupt. Mit diesen Ideen und Begriffen kapseln sich die Philosophen von der weltlichen Wirklichkeit ab, sind immer irgendwie auf der Flucht vor dem, was unsere Welt ist.

Friedrich Nietzsche hat später speziell die Schulphilosophen der Universitäten noch viel schärfer kritisiert. Er wirft ihnen vor, dass sie mit ihrem Philosophieren nur solche Ergebnisse herausbekämen, die sie herausbekommen wollen. Sie stellten ihre Problemfragen immer schon so, dass nur ein gutes, ein sittliches, ein Gott wohlgefälliges Ergebnis herauskommen könne. Solches Philosophieren aber ist Selbstbetrug. Denn wer von Anfang an nur auf das Gute hin fragt, kriegt zum Schluss auch nur das erwartungsgemäß Gute heraus.

Die Philosophieprofessoren sind ihm deshalb denkende Scharlatane, die nicht offen sind für das, was real ist, sondern nur für das, was sie in ihren Vorstellungen gerne möchten, was wirklich sein solle.

Nur wer offen in die Wirklichkeit hineindenkt mit dem Risiko ins Negative, ins Nichts, der erfährt – so Nietzsche – dass die Wirklichkeit ganz anders ist. So reißt Nietzsche selber mit seiner neuen nihilistischen Philosophie alle bestehenden etablierten Denkgebäude ein, sprengt mit “Gott ist tot“ alle konstruktiven Seins-Interpretationen.

Der Philosoph muss sich der krassen Wirklichkeit auf radikale Veränderung hin stellen.

Diesen realistischen Ansatz haben Marx und Nietzsche gemeinsam – allerdings liegen sie beide in ihren jeweiligen Schlussfolgerungen daraus völlig konträr. Uns geht es hier nur um den Ansatz des neuen Philosophieverständnisses bei Marx, um seinen Versuch, die Welt vom Kopf auf die Füße zu stellen.

Marx beschreibt in seinem KAPITAL (Band 1) ganz bewusst und gezielt das Elend der Proletarier im kapitalistischen Produktionsprozess, Bedingungen vor allem von Kindern, die schon mit 7 Jahren in einem bis zu 16stündigen Arbeitstag an Maschinen angekettet sind; von Kindern, die als lebende Schornsteinfegermaschinen in die Schlote hinuntergelassen werden und fast immer nach kurzer Zeit sterben. 2000 derartige Kindertote pro Jahr. Doch immer ist sofort Ersatz für sie da. Marx nennt das Verwandlung von Kinderblut zu Kapital. Es ist nur ein kleines Zeichen für das dramatische Elend der Menschen in der (damaligen) kapitalistischen Industriearbeit.

Was hat das mit Philosophie zu tun, mit den schönen Ideen der Philosophen von einer heilen, abstrakt-geistigen Wirklichkeit?

Alles – kontert Marx. Das sind Menschen! Die Voraussetzungen, mit denen wir beginnen, sagt Marx, das sind die wirklichen Individuen, ihre Aktionen, ihre materiellen Lebensbedingungen – die materielle Wirklichkeit gegen alles geistig Ideelle, Abstrakte, Fiktive. Es nützt nichts, das Gute abstrakt zu denken. Es gilt, die realen Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein sich selbst entfremdetes Wesen ist. Gerade von den Philosophen muss das Gute, das Humane konkret gedacht und praktisch in die reale Wirklichkeit hinein zur Veränderung gebracht werden.

Diese Schluss-These 11 mit der Neubestimmung der Philosophie zur Veränderung der konkreten sozialen Verhältnisse gründet in Auseinandersetzung mit Feuerbach in den vorausgehenden äußerst wichtigen Thesen 5 – 8:

These 5:

Feuerbach,
mit dem abstrakten Denken nicht zufrieden,
will die Anschauung; aber er fasst die Sinnlichkeit
nicht als praktische menschlich-sinnliche Tätigkeit.

Anschauung ist Sinnlichkeit, ja.

Zunächst bestätigt Marx Feuerbach ausdrücklich in der Grundeinsicht, dass die reale Wirklichkeit nur durch Anschauung fassbar ist. Was der Mensch und die Welt ist, erfährt der Mensch sinnlich, über seine Sinne. Feuerbach hatte Sinnlichkeit und Wirklichkeit in eins gesetzt.

Sinnlichkeit aber ist praktische Tätigkeit des Menschen.

Warum nur – so Marx ziemlich fassungslos – bleibt Feuerbach in der sinnlichen Betrachtung des Menschen bei dessen Beschreibung in ontologisch-statischen Positionen stehen, im Geistig-Prinzipiellen also als einer Art Hardware? So wichtig diese als Voraussetzung ist, so entscheidend ist für das Individuum im Einzelnen und für die Individuen insgesamt dagegen die Software: Das Geschehende. Das Sich-Ereignende. Das Handelnde und Tätige. Das Gelebte.

These 6:

Feuerbach löst das religiöse Wesen in das menschliche Wesen auf.
Aber das menschliche Wesen ist
kein dem einzelnen Individuum innewohnende Abstraktum.
In seiner Wirklichkeit ist es
das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.

Das menschliche Wesen ist kein Abstraktum.

Der Mensch ist kein fest errichtetes Gebäude, das von religiös- philosophisch-ideellen Architekturmaßen vorgegeben steht und nach diesen Vorgaben vermessbar wäre. Der Mensch ist keine fixe Idee hinter den Sternen, kein spekulatives Hirngespinst, kein Dogma aus der Transzendenz, kein Sein an sich, kein geistiges Nichtdingliches.

Das menschliche Wesen ist das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.

Das ist die alles entscheidende Feststellung bei Marx. Der Mensch ist etwas Gewordenes, noch schärfer: Etwas Gewordenes in und aus der realen Wirklichkeit heraus, aus den materiellen Bedingungen des Daseins. Alles Sein, nicht nur biologisch, alles Bewusstsein, auch alles Soziale, ist Produkt materieller Entwicklung. Das Materielle ist der Ausgangspunkt allen Seins, deshalb Materialismus.

Das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse umfasst somit alle denkbaren Faktoren der Daseinsbestimmung in Geschichte und Gegenwart. Was der Mensch ist, ist er in Sozialgeschichte, in Kommunikations- und Kulturgeschichte, in Erkenntnis- und Bildungsgeschichte, in Religions- und Geistesgeschichte geworden.

Den denkbar größten Einfluss in Ursache und Wirkung im Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse haben allerdings die ökonomischen Bedingungen, in denen sich der Mensch entwickelt hat und noch entwickelt. Für Marx sind die wirtschaftlichen Voraussetzungen die entscheidenden Kräfte der gesamten Menschheitsgeschichte.

These 7:

Feuerbach sieht nicht, dass das religiöse Gemüt
selbst ein gesellschaftliches Produkt ist
und dass das abstrakte Individuum, das er analysiert,
einer bestimmten Gesellschaftsform angehört.

Das Gemüt ist ein gesellschaftliches Produkt.

Damit wird das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht nur konkretisiert, sondern inhaltlich noch verschärft. Denn Gemüt als Ausdruck des Innenlebens des Menschen, als seine geistige und seelische Gesamtverfassung, auch in seinem religiösen und Gott bezogenen Wesen, wird als gesellschaftliches Produkt definiert.

Jede Momentaufnahme vom Individuum ist Ausdruck eines bestimmten gesellschaftlichen Zustandes. Der punktuelle Befund eines Individuums bringt immer einen spezifischen gesellschaftlichen Entwicklungsstand zum Ausdruck. Er ist der Focus des Ensembles der gesellschaftlichen Verhältnisse je Augenblick, aus dem sich das Individuum ableiten und erklären lässt. In dieser Grundthese wurzelt Marx´ Historischer Materialismus.

Der generelle Materialismus, der ja schon lange vor Marx entstanden war, wird durch die besondere Betonung der geschichtlichen Entwicklung bei Marx zum Historischen Materialismus. Die Historizität als solche ist ein ganz wesentliches Objektivitätskriterium des Materiellen. Zugleich ist dieser historische Materialismus zwangsweise voll atheistisch. Denn insofern er von unten aus dem Weltlichen heraus definiert ist, werden aller geistiger Überbau und alles Theoriegesetzte, zum Beispiel Religion und Wissenschaft, Recht und Moral, letztlich natürlich auch Ökonomie und Produktionsverhältnisse, Staat und klassenlose Gesellschaft zu Folgeerscheinungen, zu Epiphänomenen aus der materiellen Wirklichkeit heraus.

These 8:              

Das gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch.
Alle Mysterien, welche die Theorie zum Mystizismus veranlassen,
finden ihre rationelle Lösung
in der menschlichen Praxis
und in dem Begreifen dieser Praxis.

Das gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch.

Marx betont noch einmal mit starkem Übergewicht gegen das Abstrakte das Menschsein aus dem tätigen Geschehen, aus dem handelnden Erleben, aus der Dynamik der Kommunikation. In all dem ereignet sich die Vielfalt des individuellen und kollektiven Daseins.

Alles religiös-philosophisch Spekulative lässt sich aus der praktischen Wirklichkeit heraus erklären. Alle aufs Jenseitige ausgerichteten Praktiken welcher Form auch immer (Mysterien), natürlich auch alles Religiöse und Göttliche, sind Produkte der generellen Gesellschaftspraxis. Das Ideell-Geistige ist nicht Subjekt, sondern Objekt. Hier geht Marx ganz auf Feuerbach zurück, allerdings auch hier wieder mit dem Zusatz, dass dies nicht ontologisch zu verstehen ist, sondern gesellschaftlich-ökonomisch.

Speziell die Religion ist das Produkt ökonomischer Konditionierungen der Menschen. Als solches ist sie in ihrer Entstehung und ihrer gesellschaftlichen Funktion und damit Wirkung unmittelbar ableitbar und erklärbar. Sie kann und muss bei der Veränderung der Gesellschaft als sozialer Faktor genau eingeschätzt und beurteilt werden.

(5) Opium des Volkes als Kritik an der Gesellschaft

Dieses berühmte, viel zitierte Wort Opium des Volkes stammt ursächlich nicht von Karl Marx. Wir finden es wohl zuerst bei Paul H. Th. Holbach, neben Denis Diderot einer der maßgeblichen Enzyklopädisten in Paris, Vorkämpfer des atheistischen Materialismus der französischen Aufklärung. Bei Marx steht dieses Wort in seiner Einleitung ZUR KRITIK DER HEGELSCHEN RECHTS-PHILOSOPHIE von 1844: Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt … Sie, die Religion, ist das Opium des Volks.

Wenngleich nicht von ihm selbst, wird dieses Wort dennoch zu einer urtypischen Definition von Karl Marx, weil es sich aus der originären Gedankenfolge seiner Religionskritik aufbaut und so zum Fundament seiner gesamten philosophischen Grundsatzkritik wird. Kritik der Religion, sagt Marx ist, ist die Voraussetzung aller Kritik.

Das häufige Missverständnis dieses Opium-Wortes beginnt schon mit seiner Verkürzung auf Religionskritik. Natürlich kritisiert Marx auch die Religion. Aber ihn kümmert wenig eine Auseinandersetzung um die religiöse Wahrheit von Dogmen oder Glaubensaussagen. Religionsinhalte als solche spielen für ihn nahezu keine Rolle.

Marx kritisiert vielmehr mit diesem Wort die Verhältnisse, die Religion in der Gesellschaft notwendig machen. Das Wort ist eine radikale Kampfansage an jede Gesellschaft, deren unverzichtbarer Teil die Religion ist. Denn der allgemeine Gebrauch von Religion macht erkennbar, dass die Gesellschaft Mängelzustände aufweist, die das Volk dazu zwingen, als Ersatz für irdisches Glück Religion zu gebrauchen, so wie jemand, der wegen seines elenden Krankheitszustandes Opium als Trost- und Schmerzmittel braucht.

Religion als Opium des Volkes als Angriff auf die gesellschaftlichen Verhältnisse beinhaltet also ursächlich die gesamte Breite Marxscher Gesellschaftskritik. Die Forderung, so Marx, die Illusionen über einen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf.

Es geht also nicht vordergründig darum, das Opiat Religion als Religion zu bekämpfen, sondern vom Grundsatz her darum, die Bedingungen, die das Opiat Religion nötig machen, außer Kraft zu setzen. Mit der Aufhebung dieser Bedingungen erledigt sich das Opiat Religion als Folge dann von selber.

Marx sieht in Hunger und Armut, in persönlichem Wertverlust und in der Entfremdung die ursächlichen Gesellschaftszustände, die die Proletarier verzweifeln und ihre Illusion der Religion wie eine notwendige Flucht in den Himmel erscheinen lässt. Nicht aus Kritik am Himmel selber, sondern im Widerstand gegen Verhältnisse auf der Erde, die den Himmel nötig machen, muss Religion als falscher Weg aufgedeckt werden.

Von daher erklärt sich Marx´ exzessive Bereitschaft zur Veränderung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft als politischer Atheismus. Gesellschaftsveränderung muss notfalls durch Revolution erfolgen, mit dem Ziel der Vernichtung der herrschenden Klasse, die schuld an den Verhältnissen ist. Marx hat den Umsturz nicht nur angekündigt, sondern in seinen politischen Aktivitäten zum konkreten Ziel gesetzt. Allerdings war er selbst nie am konkreten Umsturz beteiligt. Der erfolgte erst später durch Lenin in der Russischen Revolution 1917.

Marx´ Revolutionsziel war die klassenlose Gesellschaft, eine Gesellschaft, in der die radikalen Fronten zwischen Kapital und Lohnempfängern, Bürgern und Proletariern aufgehoben sind. Dafür mussten die kapitalistischen Produktionsverhältnisse, die die Verelendung der Massen bewirkten, aufgehoben werden. Das aber ging nur durch Revolution mit Auflösung des Privatbesitzes. Allen gehört alles! Damit entsteht für Marx die wirkliche Gleichheit aller Menschen.

Karl Marx war im letzten ein reiner Humanist, Idealist und Utopist: Er wollte allen Menschen das Paradies auf Erden schaffen.

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Autor: Paul Schulz