Diskurs 01.01
Natur und Mensch.
Inhalt
- Natur besteht völlig unabhängig von uns Menschen.
- Die Natur ist nicht speziell für den Menschen da oder auf den Menschen hin gemacht.
- Der Kultur-Mensch hat erst sehr spät verstehen gelernt, dass er als Mensch ganz und gar ein Stück Natur ist.
- Zusammenfassung in drei Thesen und aktuelle Schlussfolgerungen
(1) Natur besteht völlig unabhängig von uns Menschen.
Der Mensch kann zwar hier und da in kleinen Bereichen auf die Natur einwirken. Er kann Regenwälder abholzen, Wasserreservate veröden lassen. Er kann Luft verpesten, und damit Katastrophen heraufbeschwören, zum Beispiel eine Klimaerwärmung, die den Meeresspiegel steigen lässt, wodurch Küstenstreifen überschwemmt werden und verloren gehen. Er kann Tierarten ausrotten und Menschenmassen verhungern lassen. Andererseits kann der Mensch auch Deiche und Staudämme bauen, neue Wälder anlegen. Er kann Techniken zur Schonung der Umwelt entwickeln. Er kann für Tiere und Menschen lebenswerte Lebensräume, kann blühende Kulturlandschaften entstehen lassen.
Doch selbst die größten Eingriffe der Menschen in die Natur sind im gesamten Natursystem nur Kleinigkeiten. So oder so. Sie schaden oder nützen dem Menschen. Sie schaden oder nützen nicht nachhaltig dem großen Naturgeschehen. Die Natur geht darüber hinweg.
Der Mensch hat also keinen wirklichen Einfluss auf die Urgewalt Natur. Natur besteht völlig unabhängig vom Menschen oder von irgendeiner anderen Wirkungsmacht. Nichts bestimmt die Natur außer die Natur sich selber. Seit der Entstehung des Kosmos vor 13,7 Milliarden Jahren treibt die Natur das Sein mit einem ungeheuren Evolutionsdruck in allen Bereichen in die Zukunft voran. Die Natur wirkt dabei völlig in sich selbst. In ihr steckt eine absolut eigene Entwicklungsdynamik, die Naturgesetze: Mit ihnen ist die Natur die absolute Urkraft des Seins in unserem Kosmos! Nichts geschieht außerhalb dieser Urkraft, nichts gegen sie. Nur und ausschließlich mit ihr entwickelt sich das Sein und besteht alles Sein. Gerade auch für alles neue Sein bleibt immer die Natur die alleinige Urkraft.
(2) Die Natur ist nicht speziell für den Menschen da oder auf den Menschen hin gemacht.
Es gibt in der Natur und aus der Natur heraus keinen einzigen Sinn, der speziell auf den Menschen hin angelegt ist. Die Natur hat kein exklusiv menschliches Ziel, kein humanes Telos. Ganz im Gegenteil. Die Natur erscheint in ihren Abläufen sogar absolut menschenfeindlich. Immer wieder erweisen sich die Naturgewalten als grausam gerade auch den Menschen und ihren Aktivitäten gegenüber. Natur ist erbarmungslos, nimmt keinerlei Rücksicht, weder auf die Masse Mensch, noch auf das Individuum Mensch. Durch die Epochen der Menschheitsgeschichte hindurch sind so immer wieder durch Naturveränderungen oder Naturkatastrophen Kulturen vernichtet worden, weite Landstriche sinnlos verödet, ganze Kontinente untergegangen. Das Werden der Natur beinhaltet zwar die Entstehung und das Leben des Menschen als Naturprinzip, hat den Menschen aber nicht zu einem bevorzugten, gar exklusiv gesetzten Ziel des Seins.
Dennoch hat sich der Mensch in einer ganz kleinen Nische unseres Sonnensystems entwickelt, gerade weil er sich den Naturbedingungen auf Erden immer ganz besonders angepasst hat. Dabei ist er immer nur ein ganz winziger Bestandteil eines urgewaltigen kosmischen Naturgeschehens geblieben. Sein Lebensgrund ist dünn wie eine Eierschale: Kaum ein paar Kilometer Lufthöhe aus schmaler Sauerstoffdecke, enger Temperaturkorridor innerhalb weniger Plus- und Minusgrade, schwacher Luftdruckwiderstand bei geringer Körperbelastbarkeit, eingeschränkte Beweglichkeit durch langsame Geschwindigkeit und mangelnde Ausdauer, begrenzte Auswahl von Nahrung durch starke Landschafts- und Wetterabhängigkeit – insgesamt total labile Rahmenbedingungen für das Leben der Menschen. Dennoch ist der Mensch etwas Besonderes geworden, gleichsam das Spitzenprodukt der Natur. Doch brechen bestehende Naturkonditionen weg oder verändern sie sich auch nur wenig, dann leidet das System Mensch Schaden, es droht gar vollständig zusammenzubrechen.
Letztlich ist selbst unser Hausplanet Erde insgesamt dem Menschen nicht sicher. Die kosmische Naturentwicklung wird unser ganzes Sonnensystem auf Dauer mit Sonne, Erde und allen Planeten verglühen lassen: Unsere Sonne ist 4,5 Milliarden Jahre alt. Aus ihren Energievorräten ist ihre Lebensdauer auf weitere 4,5 Milliarden Jahre zu berechnen. Doch die Auswirkungen ihres Verglühens werden schon viel früher spürbar werden. Ganz langsam aber dann immer dramatischer wird sie sich zu einem Roten Riesen verändern. Schon in zwei Milliarden Jahren wird sie sich gewaltig aufgeheizt und ausgedehnt haben, wird viel heller leuchten. Ihre Hitze lässt dann auf der Erdoberfläche die Temperaturen weit über 100 Grad ansteigen. Die Meere beginnen zu kochen. Alles Wasser verdampft. Die Atmosphäre löst sich auf. Alles Leben stirbt.
Mit der zunehmenden Veränderung der Sonne löst sich auch die Stabilität der Planetenbahnen auf. Die Planeten stürzen zurück in die Sonne. Der einstige planetarische Sonnenraum füllt sich mit riesigen, glühenden Gaswolken. Mit dem Verbrennen ihrer Restenergien beginnt der Todeskampf der Sonne in einem Feuer- und emissierenden Teilchensturm. Ausgebrannt wird die Sonne in sich zusammenstürzen. Sie wird zu einem Weißen Zwerg im Zentrum eines Ringnebels, nur noch etwa so groß wie unsere Erde heute, nur noch 10.000 Grad heiß. Letztlich kühlt sie ganz aus und wird zu einem schwarzen Gesteinsbrocken im Weltall, härter als ein Diamant.
Dies ist keine Feststellung aus akuter Existenzangst, sondern eine ganz generelle Erkenntnisbasis der Naturwissenschaften. Die Astronomen heute können mit den modernen Fernrohren das Entstehen und das Vergehen von Sternen in den vielfältigen Stadien wie etwa Rote Riesen oder Weiße Zwerge beobachten und ihre Zustände sehr genau definieren. Anhand kosmischer Dokumentationen ist unzweifelhaft: In der Natur, auch in der kosmischen Natur, zerstören sich die entstandenen Systeme selbst. Denn so wesentlich Natur das Werden und Entwickeln des Seins bedeutet, genauso wesentlich bedeutet Natur das unabdingbare Vergehen des Seins. Alles Existieren und alles Lebende bestehen nicht nur im Werden der Natur, sondern auch im unabdingbaren Vergehen der Natur.
(3) Der Kultur-Mensch hat erst sehr spät verstehen gelernt, dass er als Mensch ganz und gar ein Stück Natur ist.
Im Kontra dazu: Der Mensch als fertiges Ebenbild Gottes.
Alle Religionen, speziell aber die christliche Religion und ihre Theologie, haben eine aus sich selbst heraus bestehende Natur immer bestritten und bestreiten sie heute noch. Sie setzen sich gegen die in sich geschlossene Eigenständigkeit der Natur zur Wehr. Sie sprechen der Natur die Eigenständigkeit von Werden und Vergehen, ein autonomes Sein, ab. Stattdessen behaupten sie die Natur als Schöpfung eines jenseitigen Gottes, als einen einmaligen Schöpfungsakt, also von außerhalb der Natur. Die Natur ist ihnen so Produkt einer anderen, transzendenten Wirklichkeit und Macht.
Demnach ist auch der Mensch nicht naturgemäß aus sich selbst heraus geworden, sondern wurde als fertiges Produkt eines jenseitigen Gottes in die Natur hineingesetzt. Allerdings mit dem wesentlichen Unterschied zur Natur, dass der Mensch speziell ein Ebenbild jenes Gottes sei, der ihn geschaffen hat. Als ein solches gottbezogenes Wesen erhielt der Mensch von vornherein ein absolutes Alleinstellungsmerkmal außerhalb aller Natur.
Diese religiöse Argumentation hatte und hat ein ganz simples Motiv: Schon mit seinem frühsten religiösem Bewusstsein sucht der Mensch für sich einen Ausweg aus der Natur, um ihr letztlich entkommen zu können. Denn die Natur bedeutet für ihn nicht nur ständige Bedrohung im täglichen Überlebenskampf. Natur bedeutet letztlich den endgültigen Tod. Die Natur kennt in ihrem System kein Überleben, keine ewige Zukunft über den Tod hinaus. Vielmehr haftet der Natur ein endgültiger Tod an, ein Ende des Seins für immer. Wäre der Mensch der Natur völlig gleich, dann müsste auch er sterben und für immer vergehen.
Deshalb hat sich der Mensch schon früh mit seinen religiösen Phantasien von der Natur abgewendet und sich eine Ersatzwelt geschaffen, den Himmel. In ihn flieht er mit all seinen Ängsten und Sehnsüchten, auch mit seiner Hoffnung, dem natürlichen Tod auf Erden zu entkommen und – wie auch immer – zu überleben. Deshalb sehen Religion und Theologie den Menschen im Prinzip nicht in der Diesseitigkeit der Natur angesiedelt, sondern in der Jenseitigkeit des Göttlichen.
Solange der Mensch an seinem Überleben nach dem Tod hängt, darf und kann er die eigenständige Natur nicht als seinen eigenen und einzigen Seinsraum anerkennen. Stattdessen bietet ihm die Religion einen existentiellen Fluchtweg aus der endgültigen Vergänglichkeit der Natur. Mit der Religion hängt der Mensch subjektiv existentiell an seiner religiösen Deutung der Natur. In dieser verführenden Bewussthaltung liegen Wirkung und Chance der Religion – gegen die Natur. Seit ewig schon.
Die moderne säkulare Naturerkenntnis widerspricht der religiösen Dogmatik: Der Mensch ist zwar durchaus ein besonderes Stück Natur in der Natur. Er hat Eigenschaften und Fähigkeiten, die sonst das ganze Lebenssystem der Erde nicht hat. Dennoch ist der Mensch lückenlos Produkt der Natur. Er ist in dem Naturgeschehen vom Anfang bis Ende eingewoben. Er kommt nirgends aus der Natur heraus.
Um sich als Mensch selber mit letzter Konsequenz als Produkt der Natur zu erkennen und verstehen zu können,
– bedurfte es zu allererst der Entwicklung eines menschlichen Gehirns, das zur rationalen Reflexion in der Lage war. Für die Entwicklung eines solchen Gehirns hat die Erde 4,5 Milliarden Jahre gebraucht. Denn erst vor etwa 8.000 Jahren hat sich mit dem Kultur-Menschen ein Menschentyp, unser Menschentyp, entwickelt, der in zunehmendem Maß zu rationalem Denken fähig ist. In der ganzen Zeit vorher, also nahezu 4,5 Milliarden Jahre, hat es auf Erden nirgends ein denkendes Wesen gegeben, das in etwa der Denkfähigkeit des Kultur-Menschen entsprochen hat. Die früheren Menschen hatten eben nicht unsere Denkfähigkeit. Erst mit diesem Menschen vor 8000 Jahren könnten wir Menschen heute in etwa kommunizieren, mühsam zwar, aber wohl doch. Denn erst dieser Mensch hat Geist von unserem Geist.
– Darüber hinaus bedurfte es in den letzten 8.000 Jahren einer ständigen Weiterbildung des Kultur-Menschen. Er musste sich lösen von den elementaren animistischen und später religiösen Spekulationen seines vorkulturellen Lebensbewusstseins. Er musste objektive Methoden der Erkenntnis entwickeln, um die Natur in ihrer objektiven Realität erkennen zu können. Erst mit seinem wissenschaftlichen Denken ist es ihm gelungen, die Natur zunehmend realer zu erfassen. Erst heute sind wir in der Lage, subjektive Spekulation von objektiver Erkenntnis zu trennen, keineswegs immer, aber immer öfter.
Der Mensch hat sich also in der Vergangenheit immer in einem Prozess geistiger Erkenntnisse und Weiterentwicklungen befunden. Der Mensch befindet sich auch heute ständig in neuen komplizierten Bewusstwerdungsabläufen, hat immer Neues hinzuzulernen. Dabei muss er ständig Altes, lange Gemeintes und Praktiziertes aufgeben, um einigermaßen auf der Höhe der laufenden Erkenntnisse zu sein, ja, um zukunftsfähig zu bleiben. Immer weniger ist uns heute ein Zurückbleiben, gar ein Zurückkehren in Altvergangenes möglich. Panta rei – alles fließt. Das richtet alle Lebenschancen gezielt nach vorne in die Zukunft. Das war zwar in den vorausgehenden Kulturzeiten ähnlich so. Doch heute laufen die geistigen Herausforderungen in einer derart rasanten Zeitfolge ab, dass dem Menschen kaum noch Ruhephasen bleiben.
Eine der wesentlichen Herausforderungen unserer Zeit heute ist die Erkenntnis, dass der Mensch ganz und gar Natur und nur Natur ist, dass er sich also selbst total in die Evolution der Natur einordnen muss. Nicht allein, dass er wie alle Natur über Milliarden Jahre entstanden ist, sich dann über Jahrmillionen in niederen Entwicklungsstufen Schritt für Schritt durchsetzen musste und erst in den letzten zigtausend Jahren nur ganz allmählich zu seiner heutigen Gestalt und seinem heutigen Wesen gefunden hat. Es ist für ihn auch in der letzten Evolutionsphase ein ganz mühsamer Kriechweg gewesen, auf dem er sich schließlich vor etwa 8.000 Jahren zum Kulturmenschen entwickelt hat.
Doch noch immer ist es ein weiter Weg, bis der Mensch heute begreift, dass dieser Natur bedingte Weg sein ureigener Weg war und ist. Der Mensch muss immer noch heraus aus seinen veralteten religiösen Vorstellungen zu einem säkularen Bewusstsein des realen Seins mit allen natürlichen Möglichkeiten und natürlichen Begrenzungen. Er muss mit allen existentiellen Konsequenzen durchstoßen zu der elementar-einfachen Erkenntnis: Das Leben und auch das Sterben sind etwas ganz Natürliches.
Zusammenfassung in drei Thesen
These 1: Die Natur treibt das Sein mit einem ungeheuren Evolutionsdruck in allen Bereichen in die Zukunft voran. Die Natur wirkt dabei völlig in sich selbst durch ihre eigene Entwicklungsdynamik, den Naturgesetzen.
Nichts geschieht außerhalb dieser Urkraft, nichts gegen sie. Nur und ausschließlich mit ihr entwickelt sich das Sein und besteht alles Sein. Gerade auch für alles neue Sein bleibt immer die Natur die alleinige Urkraft.
These 2: Es gibt in der Natur und aus der Natur heraus keinen einzigen Sinn, der speziell auf den Menschen hin angelegt ist. Die Natur selbst beinhaltet kein exklusives menschliches Ziel, kein humanes Telos.
Der Mensch ist zwar durchaus ein besonderes Stück Natur in der Natur. Dennoch ist der Mensch lückenlos von der Natur abhängig.
These 3: Erst mit der Evolutionstheorie und damit durch die modernen Naturwissenschaften erkennt der Mensch mit letzter Konsequenz seine naturbedingte Stellung: Der Mensch ist ein sowohl in seiner Körperlichkeit, als auch in seinem geistigen Wesen und kulturellen Verhalten als Ganzes ein Produkt der Natur.
Geburt, Leben und endgültiger Tod sind auch seine Existenzbedingungen. Denn alles Existieren und alles Lebende bestehen nicht nur im Werden der Natur, sondern auch im unabdingbaren Vergehen der Natur.
Generelle Schlussfolgerung
Der Mensch begreift erst sehr langsam, dass er ganz in die Natur hineingehört. In Wirklichkeit hat er sich mit dem Leben und Tod in der Natur immer noch nicht abgefunden. Um diesen Schritt wirklich machen zu können, muss er Abschied nehmen von allen veralteten religiösen Vorstellungen, die ihn immer noch irgendwie mit dem Jenseitigen verbinden.
Er muss sich voll seines realen diesseitigen Lebens bewusst werden mit allen natürlichen Möglichkeiten und allen natürlichen Begrenzungen. Er muss mit allen existentiellen Konsequenzen durchstoßen zu der elementar-einfachen Einsicht: Mein Leben und auch mein Sterben sind etwas ganz Natürliches.
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Autor: Paul Schulz