Diskurs 01.03
Das Abendland als Initialkultur der modernen Naturwissenschaften. Ein historischer Rückblick auf die Anfänge der Vernunftphilosophie
Inhalt
- Das Wesen des Abendlandes ist die Durchsetzung eines säkularen Weltverständnisses mittels der Vernunft
- Der erste gewaltige Ausstieg der Vernunft aus dem religiösen Naturverständnis erfolgte mit der ionische Naturphilosophie
- Infolge der ionischen Naturphilosophen entstand im antiken Athen die erste in sich geschlossene säkulare Natur- und Welttheorie.
(1) Das Wesen des Abendlandes ist die Durchsetzung eines säkularen Weltverständnisses mittels der Vernunft
In keinem Kulturkreis der Erdgeschichte hat es eine derartige Entwicklung der menschlichen Vernunft gegeben wie im Abendland. Natürlich haben sich auch in anderen alten Kulturen Ansätze zum wissenschaftlichen Denken mit sensationellen technischen Ergebnissen entwickelt. Schon bei den Sumerern (-5500) bezeugt ihre Erfindung der Schrift eine hohe abstrakte Denkleistung. Im alten Babylon die Erfindung des Rades, in China die Erfindung des Kompass, in Indien die Ausbildung der Algebra, in Ägypten das Nilometer und damit die hohe Entwicklung der Bewässerungstechnik des Nils durch genaue Naturbetrachtung – alles Ergebnisse großartiger Denkleistungen.
Dennoch sind all diese erdachten Erfindungen in singulären Ansätzen stecken geblieben, weil sich in keinem dieser Kulturkreise aus den Einzelbeobachtungen heraus eine analytische Erkenntnisfolge der Vernunft entwickelte. Es entstand keine logische Rationalität, in der zusammenhängende komplexe Wirkungsprinzipien der Natur erkannt wurden.
Allein im Abendland vollzog sich dieser Erkenntnisprozess nicht hier oder da einmal als vereinzelter Zufallstreffer, sondern als zusammenhängende Denkfolge in zunehmender Erkenntnisdichte zu immer umfangreicherem Wissen. Es wurde hier auch sehr schnell in neue weltliche Theorien hinein systematisiert, es wurden logische Gedankenfolgen entwickelt und objektive Schlussfolgerungen gezogen, die dann immer wieder zu neuen Fragen führten, an deren Lösung sich gezielt immer mehr Denker beteiligten.
Nur im Abendland entwickelte sich so – eben zuerst bei den antiken Griechen – eine weiterführende Methodik der säkularen Rationalität, eine weltliche Vernunft, mit der die neuen Denker alles daran setzten, sie Welt nicht mehr wie bisher magisch-mythisch-religiös zu erklären, sondern säkular, also weltlich real gemäß ihrer verstandesmäßigen Fähigkeiten.
Schon die allerersten Vernunftdenker riskierten dabei den Bruch mit der traditionellen Religion. Erst waren sie offenbar überrascht, dass ihre neuen Theorien so vehement den religiösen Widerstand heraufbeschworen. Aus den immer gezielteren Konfrontationen wurde dann aber schon bald eine unüberbrückbare Zwietracht, die sich schließlich durch die gesamte abendländische Geistesgeschichte in vehementen Auseinandersetzungen durchgehalten hat. Wir wissen heute: Zwischen säkularer Naturerkenntnis und religiösem Naturdogmatismus besteht ein Graben, der sich nie wird überwinden lassen. Weltliche Rationalität und religiös-spekulativer Glaube sind von ihrem jeweiligen Wesen her nicht kompatibel.
Auf dieser Basis ständiger Auseinandersetzung mit oft schrecklichen menschlichen Verfolgungen Vernichtungen vollzog sich in Europa die Entwicklung der säkularen Vernunft und ihrer weltlichen Erkenntnisse im Einzelnen und als Ganzheit in drei große Aufklärungsepochen:
Zum Ersten: Der Ausstieg der weltlichen Vernunft aus der griechische Götterwelt durch die ionische Naturphilosophie und ihre nachfolgenden Weiterentwicklung in der klassischen Philosophie des antiken Athens.
Zum Zweiten: Der Befreiungskampf der weltlichen Vernunft aus dem christlich absolut gesetzten dogmatischen Weltbild des Mittelalters durch die Wiederentdeckung der antiken Schriften des Aristoteles in der arabischen Philosophietradition und die Entstehung der Renaissance.
Zum Dritten: Der Durchbruch der Naturwissenschaften in der französischen Aufklärung und die Durchsetzung der Naturwissenschaften im säkularen, naturwissenschaftlichen Weltbild des 19. Jahrhunderts und global in der modernen Welt.
(2) Der erste gewaltige Ausstieg der Vernunft aus dem religiösen Naturverständnis erfolgte mit der ionische Naturphilosophie
Thales aus Milet (-625 bis -547) wurde von seinen Mitbürgern anno -538 aus der Stadt vertrieben, weil er ihnen eine Sonnenfinsternis vorausgesagt hatte, die dann auch wirklich punktgenau eintrat. Seine frommen Mitbürger sahen darin aber eine Lästerung der Götter. Wie konnte man als Mensch so hochmütig sein und in das Handeln der Götter eingreifen wollen. Sie waren empört und vertrieben Thales aus Angst vor dem Zorn der Götter aus der Stadt.1 Als sich die Aufregung der Mileter gelegt hatte, durfte Thales in die Stadt zurückkehren. Er war dort ja eigentlich ein sehr angesehener Mann. Auch seine kritische Denkarbeit konnte er fortsetzen. Allerdings wurde er von seinen Mitbewohner argwöhnisch beobachtet. Der denkt wieder, sagten sie.
Eines Tages lehrte Thales, der Urstoff des Seins, aus dem alles entstanden sei, sei das Wasser. Dieser Urstoff, die Materie sei immer schon da, nicht geschaffen, ohne Ende.
Mit dieser These hat Thales eine Denkrevolution ausgelöst, denn andere Denker in Milet widersprachen ihm:
Anaximander aus Milet (-610 bis -546) lehrte, der Urstoff des Seins, aus dem alles entstanden sei, sei das Unbegrenzt-Stoffliche.
Anaximenes aus Milet (-585 bis -526) lehrte, der Urstoff des Seins, aus dem alles entstanden sei, sei die Luft.
Sie wichen zwar in der konkreten Bestimmung des Urstoffes voneinander ab, aber sie waren sich über das Phänomen Urstoff als solchem einig. Sie kennzeichneten den materiellen Urstoff mit dem griechischen Begriff arche oder en arche – Anfang, im Anfang. Sie meinten das nicht nur im zeitlichen Sinn von Anfang an. Dies arche bedeutete ihnen vielmehr den ursächlichen Grundbestand, gleichsam das Fundament einer Sache ohne Anfang, als Anfang selbst. Nicht geschaffen und ohne Ende. Vor ihm gab es nichts. Von daher versteht sich, dass die frühen Materialisten den Urstoff als ewig bezeichneten, als etwas, was immer schon als Grundlage da war und unvergänglich immer da sein wird. Wenn aber der Urstoff ewig war; dann kann das natürlich Gewordene und das Werdende nur Folge der Ursubstanz sein. Alles Weltliche musste sich dann aus der Urmaterie entwickelt haben.
Wenngleich die einzelnen Vergegenständlichungen (das Wasser, das Unbegrenzt-Stoffliche, die Luft) heute keine Gültigkeit mehr haben, so ist dennoch die Behauptung einer materiellen Ursubstanz der Welt und des Seins durch die Jahrhunderte bis in unsere Zeit heute höchst aktuell geblieben:
Empedokles aus Agrigent auf Sizilien (-495 bis -435) erweiterte zunächst die These von Thales. Er nannte den Urstoff statt arche jetzt Element – Grundbestandteil. Zugleich erweiterte er die Theorie des einen Urstoffs zur Theorie der vier Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde. Schon bei Aristoteles und dann im ganzen Altertum und weit bis in die Neuzeit hinein hatte die Theorie der vier Elemente Gültigkeit.
Heute bezeichnen die Fachleute als Elemente im Kosmos vorhandenen Grundstoffe, die mit chemischen Mitteln nicht mehr zerlegbar sind, also Wasserstoff, Kohlenstoff, Eisen, Blei, Uran und die vielen anderen. 1868 wurde das Periodensystem der Elemente fast gleichzeitig und unabhängig voneinander von dem Russen G. J. Mendelew und dem Deutschen Lothar Meyer entwickelt, eine neuzeitliche Tabelle der Elemente nach ihren chemischen Kennzahlen. Die Tabelle wurde seitdem ständig durch Neuentdeckungen erweitert. Es sind zurzeit insgesamt 118 Elemente bekannt, wobei nicht alle (nur 93) in der Natur auf der Erde vorkommen, die anderen auf anderen Sternen schon nachgewiesen sind oder noch nachgewiesen werden müssen. Sie alle sind in und aus der Urmaterie der Evolution des Kosmos entstanden.
Die naturphilosophischen Materialisten aus Ionien setzten mit ihrer These vom Urstoff einen ersten Prozess der Entdämonisisierung der Natur in Gang, in dem sie religiöse Daseinserklärungen abbauten und durch säkular-objektive Erkenntnisse ersetzten. Mit ihnen und ihren ersten materialistischen Deutungsversuchen der Natur begann der lange Erkenntnisweg vom Mythos zum Logos, vom Jenseitigen zum Diesseitigen, vom Religiös-Spekulativen zum Wissenschaftlich-Realen.
Damit entwickelte das Vernunftdenken und seine Aufklärung vor 2600 Jahren zum ersten Mal ein völlig neues Verständnis der Natur, in dem die Natur als etwas Eigenständiges, als etwas in sich Autonomes entdeckt wurde, mit eigenen festen Elementen und Regeln. Dieses Erkennen der Natur war wie ein langsames Erwachen des Menschen, ein Bewusstwerden Schritt für Schritt in ein neues Wirklichkeits- und Weltverständnis. Immer stärker setzte sich der rationale Zwang der Natur-Realität im menschlichen Denken durch, die Faktizität der Realität.
Zur Entdeckung der neuen Dimension Natur gehörte also von Anfang an die Erfahrung, dass das neue Verständnis der Natur irgendwie nicht in Übereinstimmung mit der Tradition der Götter und Religion steht. Schon Thales hat deswegen mit seinen frommen Mitbürgern böse Erfahrungen gemacht. So geriet das wachsende neue Naturbewusstsein schnell in grundsätzliche Opposition zur Götter- und Religionswelt, in ihren Anfängen zunächst noch eher unbewusst, doch dann zunehmend zwangsweise zur scharfen Götter- und Religionskritik.
Von Seiten der säkulare Rationalität sind nahezu alle alten Religionen zerstört worden, schon früh gerade eben auch die große Religion der alten Griechen mit ihrem mythischen Glauben an Zeus, und all die Götterheroen im olympischen Götterhimmel. Letztlich haben die Götterspekulationen der säkularen Vernunft nicht standhalten können. Die naturbegründete Religions- und Götterkritik hat sie für immer total außer Kraft gesetzt.
Auch die christliche Religion ist speziell in den letzten 800 Jahren in ihren dogmatischen Natur- und Wirklichkeitsbehauptungen vom säkularen Vernunftdenken immer erneut angegriffen und in Frage gestellt worden. Sie ist dabei nahezu in allen säkularen Punkten widerlegt. Mit ihren veralteten Welt- und Gottesvorstellungen befindet sie sich einem rasanten nicht rückgängig machbaren intellektuellen Auflösungsprozess.
Gerade aber die christliche Religion mit ihrem kirchlichen Machtapparat hat sich immer brutal gegen jegliche Vernunfterkenntnis gewehrt und naturwissenschaftliche Erkenntnisse im Widerspruch zu ihren Dogmen bestritten, verboten verfolgt, vernichtet, vor allem natürlich diejenigen, die sie entdeckt und vertreten haben. Naturwissenschaften sind von ihr bis in die neueste Zeit bekämpft worden. Noch heute gilt der Antimodernisteneid der katholischen Kirche aus dem Jahr 1910.
Auch eine atheistische Naturlehre, die erklärtermaßen auf den Naturwissenschaften mit ihren objektiven Erkenntnismethoden und Forschungsergebnissen beruht, kann und wird von Seiten der Religion nur als Bedrohung empfunden werden. Säkulares Vernunftdenken und religiöse Glaubenspekulation sind nicht miteinander vereinbar.
(3) Infolge der ionischen Naturphilosophen entstand im antiken Athen die erste in sich geschlossene säkulare Natur- und Welttheorie.
Von Milet aus wurde Athen zum Weltzentrum des Vernunftdenkens zu der Zeit, als der große Perikles (-490 bis 429) als oberster Staatsmann in Athen regierte. Als mächtiger Führer des attischen Bundes beherrschte Athen weite Gebiete der damaligen Welt. Seine Schiffe verbrachten attische Kultur in alle Himmelsrichtungen und brachten zugleich von überall her Menschen nach Athen. Einer von ihnen war
Anaxagoras aus Klazomenai in Ionien (-500 bis -428).
Etwa um das Jahr -430 kam er nach Athen und wurde dort schnell ein Freund des großen Perikles. Eines Tages stand er vor vielen neugierigen Athenern auf der Agora, dem Marktplatz von Athen, und erklärte ihnen, dass die Sonne überhaupt keine Gottheit sei, sondern nichts weiter als ein glühend roter Stein. Die Athener galten als besonders fromm. Die Sonne war ihnen heilig. Sie waren zutiefst betroffen. Sie verklagten Anaxagoras wegen Gotteslästerung und verurteilten ihn zum Tode. Nur knapp konnte er ihrem Todesurteil entkommen.
Nachhaltigen Einfluss auf die spätere klassische Philosophie hatte Anaxagoras mit seiner Erklärung, dass der Urstoff der Welt der Geist (griechisch: nous) sei. Allerdings verstand er den Geist nicht als eine transzendente Qualität, sondern beschrieb die Ursubstanz Geist als ganz feine Materie, gleichsam als einen ätherischen Stoff. Deshalb war er, wie einst Thales, in seinem Denken voll Materialist. Für ihn war deshalb der Urstoff Geist nie etwa religiös Jenseitiges, sondern immer eine materielle Substanz. Bis heute wird Anaxagoras dennoch von einer breiten Schulphilosophie in diesem Punkt falsch gedeutet. Eben dieser Versuchung ist auch schon Aristoteles erlegen mit seiner These vom Geist als unbewegten Beweger.
Demokrit aus Abdera in Makedonien (um -460-370)
Nach langen Forschungsreisen durch die damalige Welt ließ er sich in Athen nieder. Er war ein genialer Geist mit einem allumfassenden Forschertrieb, der sich in vielen Schriften niederschlug. Er war in seiner wissenschaftlichen Bedeutung dem späteren Aristoteles mindestens ebenbürtig. Leider sind uns seine Schriften fast alle nicht erhalten. Wir können seine Welttheorie nur erschließen aus Beschreibungen, die uns von anderen Denkern nach ihm überliefert wurden. In Athen trat er mit sensationell neuen Theorie der Natur in Erscheinung. Von seinem Denken her ist er ein Urtyp des totalen Materialisten. Demokrit lehrte:
1. Wenn man einen Gegenstand halbiert und auch die Hälfte halbiert und immer wieder die Hälfte halbiert, denn kommt man an ein Ende, an dem der Restteil so klein ist, dass er nicht mehr teilbar ist – griechisch atomos, das Unteilbare, das Atom, das kleinste denkbare unteilbare Materieteilchen.
2. Jeder Gegenstand lässt sich auf sein ihm spezifisch eigene kleinste Materieteilchen, auf sein spezifisches atomos zurückführen. Es gibt deshalb eine unbegrenzte Anzahl von atomoi, von Atomen. Sie sind ewig und unzerstörbar.
3. Der Weltraum ist ein total leerer Raum. Auch er besteht ewig, ohne Anfang, ohne Ende. Er ist also nicht geschaffen, schon gar nicht von Göttern oder einem Gott.
4. In diesem leeren Raum befindet sich die Masse aller unterschiedlichen Atome. Diese Masse der unterschiedlichen Atome bildet die Materie. Auch die Materie besteht ewig und ist unzerstörbar. Sie ist nicht geschaffen, weder von Göttern, noch von einem Gott.
5. Alle Phänomenen entwickeln sich aus ihren Atomen selber, wobei sie in der Urform ihrer spezifischen Atome das Telos, das Ziel, ihrer Entwicklung in sich tragen.
6. Die Atome befinden sich im leeren Weltraum in einer fallenden Bewegung. Dabei treffen sie aufeinander. Durch ihren Zusammenprall entstehen neue Atome und damit neue Urformen des Seins.
7. Die Fallbewegung der Atome im Kosmos entsteht durch einen kosmischen Wind.
Demokrits Atomistik bildet das erste in sich geschlossene materialistisch-säkulare Weltsystem des säkular denkenden Menschen überhaupt. Seine atomistische Theorie bewirkte den radikalsten Umsturz des alten religiösen Weltbildes. Natürlich ist unser heutiges mikro- und makrokosmisches Vorstellungsmodell unvergleichlich differenzierter und genauer. Dennoch liegen unseren Erkenntnissen heute Strukturen zu Grunde, die schon damals von Demokrit erkannt worden sind.
Aristoteles aus Stagira in Makedonien (-384 bis -322).
Er kam mit 18 Jahren nach Athen und wurde dort in den Schülerkreis des berühmten Philosophen Platon aufgenommen. Er ist dort 20 Jahre geblieben bis zu Platons Tod. Prinzipiell war er ihm freundschaftlich verbunden, aber zunehmend führten gravierende Meinungsverschiedenheiten in der Philosophie zwischen beiden zu heftigem Streit. Nach Platons Tod verließ Aristoteles Athen, kam nach einigen Zwischenstopps an den Königshof Philipp II von Makedonien und wurde dort Lehrer des 13 jährigen Alexanders (dem Großen) bis zu dessen Regierungsantritt. Uneins über Machtfragen verließ Aristoteles den Königshof, kehrte -335 nach Athen zurück und gründete dort seine eigene Philosophenschule der Peripatetiker, genannt nach der Wandelhalle (Peripateion), in der er mit seinen Schülern philosophierend umherlief. Er baute dort nahezu in allen damaligen realen Wissensgebieten ein regelrechtes Forschungszentrum auf mit hohem wissenschaftlichem Niveau.
Insgesamt ist Aristoteles ein totaler weltlicher Wissenschaftler. Seine Aristoteles umfassen 146 säkulare Bücher, über Himmelskunde, über Geographie, über Zoologie, über die Seele, über Leben und Tod. In ihnen verfasste er Naturbeschreibungen und Naturdefinitionen, die so präzise sind, dass sie noch in der Neuzeit lange Maßstab waren für die Anfänge der modernen naturwissenschaftlichen Forschung.
Auch er beschreibt den Ablauf der Natur als ein aus sich selbst heraus funktionierendes System. Sein Naturmodell fassen wir in fünf Grundbestandteilen zusammen: 1. Der Kosmos, der Weltraum, ist auch für ihn ein leerer Raum, der ohne Anfang und Ende ewig existiert. 2. Die Hyle, der Stoff, ist die materielle Masse, aus der alles Sein besteht. Ihre materielle Ursubstanz sind die vier Elemente Erde, Luft, Feuer, Wasser. 3. Die Morphe, die Form, ist der Hyle als Urgestalt für jedes Phänomen inhärent vorgegeben. 4. Das Telos, ist das Ziel, auf das sich jedes Phänomen aus seiner Urform heraus evolutionär entwickelt. 5. Der Nous, der Geist, ist der Beweger aller Dinge.
Um diesen immanenten Weltprozess in allen seinen Einzelheiten und in seiner Gesamtheit erkennen zu können, schafft er ein logisches Denksystem, mit dem sich der rational forschende Mensch über die Gültigkeit seiner Erkenntnisse der diesseitigen Welt gewiss werden kann. In dieser aristotelischen Erkenntnistheorie geht es also um Kategorien, Begriffe und Gattungen, um Aussage-, Beweis- und Urteilssätze als exakte Methoden für unser menschliches Denken. Seine logischen Schriften sind in seinem Werk ORGanon zusammengefasst. Von ihnen stellte noch über 2000 Jahre später der scharfsinnige Philosoph und Erkenntnistheoretiker Emanuel Kant (1724 – 1804) fest, dass kein Denker der Neuzeit an der Vernunftlogik des Aristoteles vorbeikäme.
Im Kontra dazu: Die christliche Vernichtung der antiken Vernunftphilosophie
Anno 529 hat der christliche Kaiser Justinian I in Konstantinopel die letzte antike Philosophieschule, die Schule der Platoniker in Athen, geschlossen. Er hat damit allen geistigen Betätigungen im Sinne der altgriechischen und altrömischen Philosophie ein absolutes Ende bereitet. Es galt ausschließlich nur noch die christliche Religion – im westlichen Rom unter der anwachsenden Macht des Papstes als staatsrechtlich katholische Dogmatik. Das absolute Glaubenspostulat der Kirche stellte also die antike Vernunftphilosophie radikal in Frage und führte schließlich zu deren gewaltsamen Unterdrückung.
Schon lange vorher hatte das anwachsende Christentum vielerorts im Römischen Reich eine aggressive Heidenverfolgung in Gang gesetzt. Beispielhaft dafür ist die entsetzliche Schändung und Ermordung der heidnischen Philosophin
Hypatia aus Alexandria (355 – 415).
Alexandria in Ägypten war damals eine geistige Hochburg der römischen Antike. Hier stand die größte römische Bibliothek. In den Tagen der Hypatia war das Christentum stark angewachsen. Hypatia war dagegen in einer heidnischen Gelehrtenfamilie groß geworden, hatte studiert und ihr Studium abgeschlossen. Sie wurde dann selbst Dozentin an der altehrwürdigen Bibliothek in Alexandria. Ihre Fächer waren Mathematik, Astronomie und antike Philosophie. Sie hatte einen großen Zulauf von Hörern. Viele kamen von weither, um sie zu hören oder gar bei ihr zu studieren. Landesweit genoss sie durch viele Kontakte großes Ansehen. Von Zeitgenossen wird sie allseits als wunderschöne Frau beschrieben. Sie lebte aus Überzeugung ehelos und als Frau allein .mit hohen moralischen Ansprüchen und Selbstdisziplin Aus Vernunftgründen war sie bewusst keine Christin.
Ohne ursächlich selbst beteiligt zu sein, wird Hypatia im Jahr 391 bei Unruhen in der Bevölkerung von Alexandria zur Zielscheibe des christlichen Mobs. Zumindest mit dem Wissen, wenn nicht sogar durch gezielte Anstiftung des christlichen Bischofs Kyrill wird sie durch die Stadt gejagt, wird in eine Kirche getrieben. Die geile Masse Männer reißen ihr die Kleider vom Leib, fallen über sie her, schänden ihren Körper. Sie ziehen ihr die Haut vom Leib. Sie stirbt eines elenden Todes.
Im 19. Jahrhundert ist Hypatia mit ihrem grausamen Tod immer wieder als Beispiel aufgezeigt worden für die Wissenschaftsfeindlichkeit der frühen Kirche und deren mörderischen Vernichtungskampf gegen die Andersgläubigen und Ungläubigen. Der Film AGORA von Alejandro Amenábar (Das Meere in mir) aus dem Jahr 2010 (DVD Universal) hat unserer säkularen Gesellschaft jüngst diese fundamentalistische Grundhaltung des Christentums gegen die andersartige Welt erneut bewusst gemacht.
Das frühe christliche Mittelalter war ein wissenschaftsfeindliches Zeitalter, das jeder weltlichen Erkenntnis entgegenstand. Die großartige Kultur der Antike wurde systematisch zerstört. Die alten Philosophen wurden unterdrückt. Selbst ein so großer Denker wie Aristoteles fiel in der Zeit damals völlig in Vergessenheit.
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Autor: Paul Schulz
- Siehe dazu Diskurs ↩